Exakt 5½ Jahre nach dem offiziellen Start des MOL Programms wurde am 10.06.1969 überraschend, wenn auch nicht gänzlich unerwartet, das Ende des Projekts verkündet. Damit war auch der dritte Versuch der USAF gescheitert, ein bemanntes militärisches Raumfahrtprogramm unter eigener Leitung zu realisieren. Bereits 1956 hatte die USAF Studien für ein System anstellen lassen, das die Nachfolge des Raketenflugzeugs X-15 antreten und eine echte Orbitalkapazität beinhalten sollte. Untersucht wurden dabei geflügelte Varianten, aber auch verschiedene Kapsel Designs. Anfang 1958 entwickelte das unter Führung des Air Research and Development Command (ARDC) der USAF stehende Programm eine zunehmende Dynamik. Während man langfristig die Zukunft eher in einem kleinen Deltaflügler sah (dem späteren X-20 „Dyna-Soar“), beförderte der „Sputnik-Schock“ alle Ideen, die einen schnellen Zugang zum Weltraum sicherstellen konnten. So entstand das MISS — Man In Space Soonest Projekt. Da das klare Ziel von MISS darin bestand, noch vor der Sowjetunion einen Menschen in den Erdorbit und sicher wieder zurück zu transportieren, sah man hierfür in einer einfachen ballistischen Kapsel die erfolgversprechendste Lösung. Das Konzept entwickelte sich zunehmend in Richtung einer vergrößerten Kapsel aus dem (ebenfalls noch in der Entwicklung stehenden) CORONA Programm. Als Trägerrakete wurden Varianten auf Basis der Atlas ICBM und Thor IRBM untersucht. Und obwohl die des Projekts durch die neugegründete ARPA (Advanced Research Project Agency) noch keineswegs bewilligt war, wählte man am 25.06.1958 schon einmal eine erste Gruppe zukünftiger Astronauten aus: Neil Armstrong, William Bridgeman, Scott Crossfield, Iven Kincheloe, Jack McKay, Robert Rushworth, Robert Walker, Alvin White und Robert White. Allesamt Testpiloten. Während die USAF ihre Pläne, die hin zu einer bemannten Mondlandung gingen, weiter propagierte, tendierte US Präsident Dwight D. Eisenhower dazu, das nationale Raumfahrtprogramm in die Hände einer zivilen Raumfahrtbehörde zu legen. Ende Juli 1958 war klar, daß die USAF die beantragten 107 Mio. $ für das Projekt MISS im Finanzjahr 1959 nicht erhalten würde. Vielmehr wurde zum 01.10.1958 mit der NASA eine neue zivile Raumfahrtbehörde installiert, deren erstes Großprojekt das bemannte „Mercury“ Programm wurde. Doch die USAF gab nicht auf. Schließlich arbeitete man noch einem zweiten Projekt. Die X-20 „Dyna-Soar“ sollte der USAF einen kleinen Raketengleiter zur Verfügung stellen, der sich für Aufklärungsmissionen, aber auch als Atombomber eignete. Seit Anfang der 1950er Jahre war dieses Konzept in unterschiedlichsten Varianten immer wieder aufgelegt worden. Es war eine Weiterentwicklung des Bredt-Sänger Konzepts für einen „Amerikabomber“ aus dem 2. Weltkrieg. In der USAF hatte das Konzept viele Befürworter, handelte es sich doch um ein Waffensystem nach dem Geschmack der Piloten. Anfang 1958 lagen die Vorschläge aus einer Ausschreibung der USAF vor. Als erfolgversprechend sah die USAF die Entwürfe von Bell/Martin und Boeing/Vought an und vergab für eine weitere Designphase jeweils 9 Mio. $ an die beiden Teams. Im Juni 1959 wurde schließlich, unerwartet, der Entwurf von Boeing ausgewählt. Im April 1960 wurden die ersten konkreten Entwicklungsaufträge vergeben. Doch die politische Unterstützung für das Projekt blieb gering. Sie schwand endgültig, als 1961 unter dem neuen Präsidenten John F. Kennedy mit Robert S. McNamara ein neuer Verteidigungsminister ins Amt eingeführt wurde. McNamara unterzog eine Reihe herausragender Rüstungsprojekte einer kritischen Neubewertung. Zu den prominentesten „Opfern“ zählte der Mach-3 Bomber XB-70 „Valkyrie“ und die X-20 „Dyna-Soar“. Für letztere kam im Dezember 1963, wenige Monate vor dem geplanten ersten atmosphärischen Testflug, das Aus. Die Bewertung dieser Entscheidung ist bis heute umstritten. Fakt ist jedoch, daß die X-20 , so wie sie in der ersten Stufe zum Einsatz kommen sollte, praktisch keines der gesteckten Ziele erfüllen konnte. Weder konnte eine nennenswerte Nutzlast mitgeführt werden, noch war klar, wie die geforderte Manövrierfähigkeit erreicht werden sollte. Und die Vorstellung, den Wiedereintritt in bester Pilotenmanier per Hand zu steuern, war illusorisch. Auch hatte man bisher bereits 410 Mio. $ für das Projekt ausgegeben, während noch geschätzte 373 Mio. $ bis zum bemannten Erstflug aufzuwenden waren. Angesichts dessen wurde beschlossen, lediglich die Tests mit unbemannten, maßstäblich verkleinerten, Modellen im Rahmen des Programms ASSET fortzusetzen. Gleichzeitig mit der Einstellung des „Dyna-Soar“ Programms verkündete McNamara am 10.12.1963 das neue Großprojekt der USAF, MOL. Die Idee einer bemannten Raumstation, vornehmlich zu Aufklärungszwecken, aber auch zu unterschiedlichsten anderen Forschungen, verfolgte die USAF ernsthaft seit Beginn der 1960er Jahre. Zu dieser Zeit waren die Beschränkungen der unbemannten Aufklärungssatelliten deutlich geworden. Sie arbeiteten nach dem Start ein zuvor festgelegtes fotografisches Programm ab. Ein Großteil des Filmmaterials wurde daher verschwendet, wenn z.B. Wolken das Zielgebiet verdeckten. Der Einsatz geschulten Personals auf einer Raumstation versprach Abhilfe und mehr Flexibilität bei der Zielauswahl. Ende 1963 war nach diversen Metamorphosen das Konzept für das Manned Orbiting Laboratory ziemlich ausgereift. Zentrales Element der Raumstation sollte natürlich ein enormes Teleskop werden, das Erdaufnahmen in noch nicht dagewesener Qualität und Auflösung liefern sollte. Dazu kam eine große Laborsektion für alle Arten von Forschungen. Das MOL sollte eine Crew von zwei bis vier Astronauten beherbergen können und war für eine Missionsdauer von mindestns 30 Tagen ausgelegt. Vorgesehen war dabei der Start der Crew an Bord einer Gemini Kapsel, die gemeinsam mit dem MOL von einer modifizierten Titan III in den Orbit befördert werden sollte. Der Durchstieg in das Raumlabor wäre dann durch eine Luke im Hitzeschild der Kapsel und einen Tunnel im MOL erfolgt. In der Gemini konnte allerdings nur eine zweiköpfige Crew transportiert werden. Später hoffte man jedoch, die Mannschaftsstärke zu erhöhen. Anfang Juni 1964 erhielten die McDonnell Aircraft Company, die Douglas Aircraft Company, die General Electric Company und die Martin Company Studienaufträge für die MOL Hauptsysteme. Doch obwohl das MOL Programm rasch an Dynamik gewann, dauerte es bis zum Jahr 25.08.1965, bis US Präsident Lyndon B. Johnson die 1,5 Mrd. $ für das Programm freigab. Im November 1965 wurde eine erste Gruppe von acht Astronauten-Kandidaten von USAF und US Navy ausgewählt. Im Juni 1966 und Juni 1967 wurden fünf bzw. vier weitere Kandidaten von USAF, US Navy und US Marine Corps nachnominiert. Bemerkenswert war, daß sich mit Robert H. Lawrence Jr. darunter erstmals ein Afroamerikaner befand. Startkomplexe für das Programm sollten sowohl an der Ost– als auch an der Westküste errichtet werden. Am 12.03.1966 begannen die Arbeiten am neuen Startkomplex SLC-6 auf der Vandenberg AFB. Hier entstand in den nächsten Jahren eine Bodeninfrastruktur, die lediglich noch von jener für das Apollo-Saturn Projekt übertroffen wurde. Die USAF stand von Beginn des Projektes an unter erheblichem Druck, aus Kostengründen eine Zusammenarbeit mit der NASA zu suchen. So wurde eine Kooperation im Rahmen des Manned Orbiting Research Laboratory (MORL) der NASA untersucht. Immerhin stellte die NASA Kapazitäten des Gemini Programms zur Verfügung, teilte die Erkenntnisse zu Langzeitflügen und Außenbordmanövern aus diesem Programm mit der USAF und stellte in Aussicht, einige MOL Komponenten im Rahmen des Apollo X Programms (dem späteren Skylab) zu testen. Dennoch uferten die Kosten für das MOL Programm schon bald aus. Vor allem wuchs das Gewicht des MOL soweit, daß auch die Titan IIIM leistungsgesteigert werden mußte. Doch sowohl eine Verlängerung der Titan Erststufe als auch eine Vergrößerung des Durchmessers der ohnehin gewaltigen Feststoffbooster bedeutete gravierende Verzögerungen des Programms und neue Kostensteigerungen. Als schließlich eine Entscheidung getroffen wurde, hatte sich der Termin für den bemannten MOL Erstflug bereits auf Ende 1970 verschoben, während die Kosten auf nun 2,2 Mrd. $ gestiegen waren. Immerhin hatte die USAF am 03.11.1966 erfolgreich eine MOL Attrappe (eigentlich ein umgebauter Titan-II Treibstofftank) zusammen mit einer modifizierten Gemini Kapsel gestartet. Bei dem Raumschiff handelte es sich um die wiederaufbereitete Gemini II Kapsel, in deren Hitzeschild die für das MOL Projekt notwendige Durchstiegsluke eingearbeitet worden war. Nach der Bergung des Raumschiffs zeigte sich, daß die Modifikation keinerlei Probleme mit sich gebracht hatte. Ein zentrales technisches Problem war damit gelöst. Im Frühjahr 1968 war ein Trainingsmodell des MOL fertiggestellt, während die Ausbildung der für das Programm vorgesehenen Astronauten auf Hochtouren lief. Der nächste Meilenstein wurde erreicht, als am 27.04.1969 die neuen Booster für die Titan-IIIM erstmals auf einem Teststand gezündet wurden. Doch zu diesem Zeitpunkt war das Ende des Programms bereits besiegelt. Was letztlich den Ausschlag für diese Entscheidung gegeben hat, ist bis heute nicht ganz klar. Sicherlich war die Verdopplung der projektierten Kosten auf nunmehr geschätzte 3,0 Mrd. $ einer der Hauptfaktoren. Die Kosten des gleichzeitig ausufernden Vietnamkriegs belasteten der US Haushalt zu jener Zeit bereits erheblich. Und das MOL Programm näherte sich in seinen Dimensionen allmählich dem Apollo Projekt, das Aufgrund seiner nationalen Bedeutung vorläufig noch unantastbar war. Doch zwei dieser Großprojekte ohne nennenswerte Synergien waren nicht zu rechtfertigen. Zumal auch erhebliche Zweifel am militärischen Nutzen des MOL aufgekommen waren. Im Zusammenspiel mit dem Einsatz meteorologischer Satelliten war die Quote unbrauchbarer Aufklärungsfotos aus dem CORONA Programm drastisch gesenkt worden, während die Qualität der Fotos und die Einsatzdauer der Satelliten erheblich gestiegen waren. Gleichzeitig zeigten die Erfahrungen aus dem Gemini Programm, daß die Arbeitsbelastung von einer nur zweiköpfigen Crew nicht zu bewältigen war. Und außerdem hatten verschiedene Studien ergeben, daß die Anwesenheit von Menschen sich kontraproduktiv auf die Qualität der Aufnahmen auswirken würde. Zwar hatte man ein Teleskop entwickelt, daß eine Auflösung von 10 cm erreichen sollte. Doch die Vibrationen durch die Aktivität der Besatzung würden die Bildschärfe spürbar verringern. Auch war das Konzept der „Einwegraumstation“, die jeweils nur für einen bemannten Zyklus genutzt werden konnte, wenig sinnvoll. Doch ohne einen Dockingadapter blieb der (bemannte) Einsatz der Station auf wenige Wochen beschränkt. Weder die Ressourcen der Station noch die des Gemini-B Raumschiffs waren für längere Missionen ausreichend. Für solche Kurzzeitmissionen (ca. eine pro Jahr) war das MOL aber schlichtweg nicht finanzierbar. Am 10.06.1969 gab der neue Verteidigungsminister Melvin R. Laird jedenfalls überraschend die Einstellung des MOL Programms bekannt. Selbst die Mehrzahl der Programmverantwortlichen hatte mit diesem Schritt nicht gerechnet. Obwohl der zu diesem Zeitpunkt zu etwa 90% fertiggestellte SLC-6 Startkomplex auf der VAFB noch fertiggestellt (und dann für eine spätere Verwendung konserviert) und auch die Aufklärungssysteme des MOL noch zu Ende entwickelt werden sollten, hoffte man, das Programm so noch im ursprünglich Finanzrahmen von 1,5 Mrd. $ beenden zu können. Ein Teil der Entwicklungen für das MOL flossen in andere geheime Aufklärungsprogramme ein, andere wurden der NASA übertragen. Diese übernahm auch sieben der gut trainierten MOL Astronauten in das eigene Programm. Sie flogen 1½ Jahrzehnte später mit dem Space Shuttle teils auch klassifizierte Missionen für das DoD. Große Teile des MOL Programms unterliegen auch heute noch der Geheimhaltung. Ursache ist wahrscheinlich die quasi Fortführung des auch als KH-10 DORIAN bezeichneten MOL als unbemannter KH-9 HEXAGON Satellit. Zwischen 1971 und 1986 trug dieser die Hauptlast der optischen Satellitenaufklärung in den USA. Und bewährte sich dabei offenbar ausgezeichnet.