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WK2/SS2 im Überflug von „Spaceport America“ am 22.10.2010
die Hecksektion von SS2 nach dem Absturz
VG Pilot Todd Ericson im Gespräch mit dem NTSB Experten Joe Sedor vor SS2 Trümmern

Nach dem Gewinn des mit 10 Mio. $ dotierten „X-​Prize“ im Jahr 2004 hatte sich das Unternehmen Scaled Com­pos­ites nach einhelliger Expertenmeinung eine ausgezeichnete Ausgangsposition für den Einstieg in das Geschäft mit kommerziellen suborbitalen Raumflügen geschaffen. Mit Richard Branson, Kopf der erfolgreichen Virgin Group (u.a. Virgin Atlantic Airways), fand sich auch schon bald ein poten­ter Investor, der die Entwicklung des größeren „SpaceShipTwo“ und des zu seinem Transport auf große Höhen erforderlichen Trägerflugzeugs „WhiteKnightTwo“ finanzierte. Das Gemeinschaftsunternehmen Virgin Galactic orderte fünf Spaceships und zwei Trägerflugzeuge. Ende 2005 begann der US Bundesstaat New Mexico mit dem Bau eines „Weltraumbahnhofs“ für suborbitale Flüge. Hauptnutzer des über 200 Mio. $ Geländes versprach Virgin Galactic zu werden. Im Oktober 2011 feierte der „Spaceport America“ seine Eröffnung. Doch zu diesem Zeitpunkt zeichneten sich bei Virgin Galactic bereits ernste Probleme ab. Denn der Jungfernflug der neuen Raumflugkombination hatte sich da schon mehrfach verschoben. Definitive Daten veröffentlichte das Unternehmen längst nicht mehr. Dabei lagen seit langem zahlreiche Buchungen wohlhabender Menschen aus aller Welt vor, die auch erhebliche Anzahlungen geleistet hatten. Doch bereits die weitgehend maßstäbliche Vergrößerung der beiden Fluggeräte erwies sich als unerwartet schwierig. Massive Probleme bereitete aber vor allem die Skalierung des ursprünglich von der späteren Sierra Nevada Corporation Tochter SpaceDev entwickelten Hybrid-​Triebwerks. Dessen Brennverhalten hatte sich schon bei den „SpaceShipOne“ Flügen als schwer berechenbar erwiesen. Die Entwicklung von „RocketMotorTwo“ erwies sich als noch problematischer. So kam es in einer frühen Entwicklungsphase im Juli 2007 zu einer Explosion mit mehreren Verletzten. Zwischen 2009 und 2013 liefen umfangreiche Triebwerkstests, bei denen immer neue Probleme auftraten. Zudem erreichte das Triebwerk nicht den erforderlichen Schub. Im Mai 2014 übernahm daraufhin Virgin Galactic selbst die Weiterentwicklung des Triebwerks, was mit dem Wechsel der festen Treibstoffkomponente einher ging. Nun mußten aber in die „SpaceShipTwo“ Struktur zusätzlich Tanks für Helium und Methan integriert werden, deren Einspritzung für eine stabilere Verbrennung sorgen sollte. Im Herbst 2014 sollten nach längerer Pause die Testflüge von „SpaceShipTwo“ unter Raketenantrieb wieder aufgenommen werden. Bis zum Frühjahr 2015 hoffte Branson nun endlich die Qualifikation abschließen zu können. Doch ausgerechnet der erste Flug mit dem neuen Antrieb endete in einem Desaster. Am 31.10.2014 schleppte das „WhiteKnightTwo“ Trägerflugzeug nach dem Start vom „Spaceport America“ das untergehängte „SpaceShipTwo“ auf etwa 14.000 m Höhe. Nach dem Ausklinken aktivierten die beiden Werkspiloten Peter Siebold und Michael Alsbury das Triebwerk. Sekunden später geriet das Raketenflugzeug außer Kontrolle und wurde von den gewaltigen aerodynamischen Kräften förmlich zerrissen, obwohl es zu keiner Explosion kam. Die Trümmer stürzten verteilt über ein großes Gebiet in der Wüste New Mexicos zu Boden. Wie durch ein Wunder überlebte Pilot Siebold den Absturz. Er wurde in etwa 15.000 m Höhe aus dem zerstörten Cockpit geschleudert und konnte sich noch von seinem Pilotensitz lösen. Der Fallschirm löste glücklicherweise automatisch aus. Unmittelbar nach seiner unsanften Landung waren Rettungskräfte zur Stelle und bargen den schwer verletzten Siebold. Kopilot Alsbury starb hingegen in den Trümmern des Cockpits. Konzentrierten sich die Spekulationen zur Unfallursache zunächst auf ein Triebwerksversagen, ergaben schon die ersten Untersuchungen des National Transportation Safety Board (NTSB) einen anderen Hergang. Sichergestellte Videoaufnahmen zeigten nämlich, wie, von Siebold unbemerkt, Alsbury nach etwa 10 Sekunden angetriebenem Flug den „Feder-​Mechanismus“ aktivierte. Dieser war dafür konzipiert, die Tragflächen beim Abstieg aus großer Höhe in eine andere Position zu bringen. Keinesfalls sollte das aber im angetriebenen Flug bei Überschallgeschwindigkeit passieren. Tatsächlich war das System auch gegen eine Fehlbedienung gesichert. Doch die Sicherung versagte aus zunächst nicht nachvollziehbaren Gründen. Ebenso unklar blieb natürlich, warum Alsbury überhaupt die Feder-​Stellung aktivierte.
Zehn Jahre nach dem „X-​Prize“ Finale stand die Branche des Raumfahrttourismus plötzlich ihrer wohl schwersten Krise gegenüber. Viele Virgin Galactic Wettbewerber hatten in den Jahren zuvor das Feld verlassen. Andere Projekte waren nach Rückschlägen eingefroren worden. Und nun hatte ausgerechnet der aussichtsreichste Anbieter einen solch schweren Rückschlag erlitten, bei dem sogar ein Menschenleben zu beklagen war. Von den fünf einst bestellten Spaceships war auch erst eines fertiggestellt gewesen. Die Trümmer von VSS „Enterprise“ lagerten nun in einer Halle unter Aufsicht der Flugaufsichtsbehörde. VSS „Voyager“ war zu 65% fertiggestellt. Doch vorläufig war an eine Fortführung des Programms nicht zu denken. Dazu kamen Probleme mit den Investoren des Projekts und Kunden, die nun von ihrem Rücktrittsrecht Gebrauch machten. Erst Ende 2016 nahm Virgin Galactic wieder erste Flüge mit dem „SpaceShipTwo“ auf. Vorläufig noch ohne aktiven Raketenantrieb. Erst im Sommer 2021 gelang der erste touristische Raumflug. Und schon wenig später mußte das Programm wieder unterbrochen werden, wegen technischer und organisatorischer Probleme.