Es ist sein Tag. In leicht gehockter Stellung sitzt er beengt in seiner winzigen Kapsel an der Spitze einer 38 Meter hohen Rakete, die ihn in wenigen Minuten als ersten Menschen in den Weltraum tragen wird. Hoffentlich. Denn obwohl die Wissenschaftler und Techniker alles menschenmögliche unternommen haben, ihm einen sicheren Flug und eine ebensolche Rückkehr zur Erde zu ermöglichen, hat er die Bilder jener Raketenstarts vor Augen, die nicht nach Plan verlaufen waren. Einige Raketen waren in einem gewaltigen Feuerball geendet. Trümmer in der kasachischen Steppe zeugten von ihrem Schicksal. Zwar saß er mit seinem Druckanzug auf einem Katapultsitz, der ihn im Gefahrenfall in der Startphase aus der Kapsel herausschießen sollte. Doch hinsichtlich seiner Chancen, einen solchen Zwischenfall zu überleben, gab er sich keinen Illusionen hin. Erst wenige Monate zuvor, bei einem unbemannten Testflug, war das Katapult ausgelöst worden, obwohl die Luke noch nicht komplett abgesprengt war. Die Chancen, den heutigen Tag zu überleben, standen nach internen Schätzungen bei etwa 50%. Zum Glück ahnte seine Familie nicht, wie gefährlich seine neue Aufgabe wirklich war. Dennoch hatten seine Vorgesetzten ihn angewiesen, das exakte Startdatum auch gegenüber seinen Angehörigen zu verheimlichen. Sollte er den heutigen Tag aber überleben und den Flug erfolgreich zu Ende bringen, würde er unzweifelhaft zu den Helden seines Heimatlandes aufsteigen. Bei aller kommunistischen Überzeugung, einige Vergünstigungen für sich und seine junge Familie durfte er sicher erwarten…
Es ist der 12. April 1961. Die Musik, die sie ihm bisher über Kopfhörer eingespielt hatten, ist verklungen. Er hört das Brummen der Aggregate. In wenigen Augenblicken werden 30 Meter unter ihm Millionen PS zum Leben erwachen und ihn zunächst langsam, dann immer schneller, auf eine Geschwindigkeit beschleunigen, die noch kein Mensch vor ihm erreicht hat. Der Minutenzeiger auf seiner Uhr springt um. Es ist sieben Minuten nach Neun, als er spürt, wie sich die Rakete von der Startrampe löst. Plötzlich fällt eine Last von seinen Schultern ab. Adrenalin schießt durch seine Adern. Das Abenteuer hat begonnen. Pojechali! — los gehts! Juri Gagarin, es ist Dein Tag!
Juri Alexejewitsch Gagarin war am 09.03.1934 im Dorf Kluschino im Gebiet Smolensk als drittes Kind einfacher Kolchosbauern geboren worden. Sein Vater arbeitete im Nebenberuf auch noch als Tischler. Trotz der bescheidenen Verhältnisse, in denen die Familie lebte, verbrachten die Kinder eine glückliche Kindheit, bis im Herbst 1941 der Krieg das Smolensker Gebiet erreichte. Für die Zivilbevölkerung begann nun eine harte Zeit. Die Familie Gagarin mußte in eine selbst gegrabene Erdhütte im Garten des eigenen Hauses umziehen. Dann wurden auch noch die beiden ältesten Kinder, Walentin und Soja, zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt. Daran, weiter in die Schule zu gehen, war nicht zu denken. Die Familie kämpfte ums nackte Überleben. Immerhin kehrten Juris Geschwister bei Kriegsende in ihr Heimatdorf zurück. Das war nicht selbstverständlich, denn viele der Zwangsarbeiter wurden nach ihrer Befreiung durch die Rote Armee als vermeintliche Kollaborateure erneut in Zwangsarbeitslager gezwungen. Gagarins Vater, dessen Gesundheit unter den Entbehrungen der letzten Jahre stark gelitten hatte, zog mit der Familie in die nahegelegene Stadt Gschatsk, wo er sich als Zimmermann durchschlug, wenn es sein Zustand zuließ. Für Juri bot sich damit immerhin die Gelegenheit, endlich wieder eine Schule zu besuchen. Und er erwies sich als intelligenter, vor allem technisch begabter, Schüler. Bald schon begeisterte er sich für die Fliegerei und verkündete seiner verwunderten Familie: „Ich werde Pilot!“ Doch 1949 verließ er die Mittelschule, um einen Beruf zu erlernen und so, wie seine Geschwister, seine Familie zu unterstützen. Gagarin erlernte in der Stadt Ljuberezk den Beruf des Gießers. Er zeigte gute Leistungen in der Ausbildung. Doch schon bald siegte sein Wissensdrang. Er nahm die Möglichkeit wahr, neben seiner Ausbildung auch noch Abendkurse zu besuchen. Seinen Ausbildern blieb das Talent Gagarins nicht verborgen. Im August 1951 erhielt er daher eine Empfehlung für das Industrietechnikum in Saratow. Dort ergab sich schon bald die Gelegenheit, Mitglied des örtlichen Fliegerclubs zu werden. Mit Beharrlichkeit und etwas Glück hatte er es geschafft, seinen Traum wahr werden zu lassen. Ziel der DOSAAF (Abk. für russisch Добровольное общество содействия армии, авиации и флоту, svw. Freiwillige Gesellschaft zur Unterstützung der Armee, der Luftstreitkräfte und der Flotte), die den Fliegerklub betrieb, war es aber, den Nachwuchs für die Streitkräfte heranzuziehen. Und so war es nur logisch, daß Gagarin als Pilot zu den sowjetischen Luftstreitkräften wechselte. Seine erste Flugprüfung bestand Gagarin am 03.06.1955 noch in Saratow. Wenige Monate nach seinem ersten Soloflug auf der Jak-18 und dem Abschluß der Ausbildung am Technikum trat er in die sowjetischen Streitkräfte ein. Er wurde zur weiteren Ausbildung an die Fliegerschule in Orenburg abkommandiert. Bei einem Tanzabend lernte Gagarin dort die angehende Ärztin Walentina Gorjatschewa kennen. Ende Oktober 1957 heirateten die beiden. Wenige Tage später erfolgte Gagarins Beförderung zum Leutnant und die Versetzung zu einer Einheit am Polarkreis. Sehr wahrscheinlich hätte dem intelligenten Gagarin nun eine erfolgreiche Militärkarriere bevorgestanden. Doch Anfang 1959 empfahl ihn sein Kommandeur für ein hochgeheimes Projekt. Damals reisten Auswahlkommissionen zu den größeren Luftwaffenbasen überwiegend im westlichen Teil der Sowjetunion und sichteten junge Piloten für ein Programm, dessen Hintergrund selbst den Bewerbern vorläufig nicht offenbart werden durfte. Und so blühten bald die Gerüchte. Ging es um die Erprobung neuer Düsenflugzeuge? Oder gar Raketenflugzeuge, die höher und schneller flogen, als alle Modelle, die in den Truppenteilen im Einsatz standen? Schließlich erlebten die Piloten selbst die bemerkenswerte Diskrepanz zwischen der Propaganda, die die immer neuen Rekordflüge sowjetischer Piloten feierte, und den veralteten Maschinen, auf denen sie selbst ihre fliegerische Ausbildung erlebten. Die meisten der jungen Piloten hatten bestenfalls Erfahrung auf der MiG-17 , einige kannten immerhin die MiG-19 . Doch 1959 war auch das Jahr, in dem die Serienproduktion eines Jagdflugzeugs begann, das tatsächlich Geschichte schreiben sollte, der MiG-21 . Und am 31.10.1959 erlangte der Testpilot Georgi Mossolow internationale Berühmtheit, als er mit einer Rekordversion der MiG-21 , der E-66 , den absoluten Geschwindigkeitsweltrekord für Flugzeuge in die Sowjetunion holte. Mit 2.388 kmh–1 übertraf er den bis dahin von der Lockheed F-104 gehaltenen Rekord. Mit dieser Leistung wurde Mossolow Idol einer Fliegergeneration, zumal er weitere Bestleistungen folgen ließ. Auch Gagarin zählte ihn zu seinen Vorbildern, nicht ahnend, daß sich zwischen ihnen bald schon eine enge Freundschaft entwickeln sollte.
Tatsächlich bestand die Aufgabe der Auswahlkommission aber in der Suche nach Kandidaten für einen bemannten Raumflug. Und so hielt man auch nicht unbedingt Ausschau nach Bewerbern mit herausragenden fliegerischen Fähigkeiten. Gefragt waren vielmehr junge belastbare Menschen mit einwandfreiem Lebenslauf im Sinne der kommunistischen Doktrin, bereit sich Befehlen unterzuordnen und natürlich ihr Leben für die Sache des Kommunismus zu riskieren. Intelligenz, ein offenes Wesen und ein angenehmes Äußeres spielten aber ebenso eine Rolle. Schließlich war man sich durchaus bewußt, daß der erste (Sowjet-)Mensch im All auch als Repräsentant des Systems fungieren würde. War die Begeisterung, die man mit dem Start des ersten Sputnik und wenig später mit dem Flug der Hündin Laika in den Weltraum ausgelöst hatte, noch weitgehend ungeplant und überraschend gekommen, wurde der bemannte Flug ins All schon unter anderen Prämissen angegangen. Der führende Kopf hinter dem sowjetischen Raumfahrtprogramm, Sergej P. Koroljow, hatte die ersten Satellitenstarts noch im Rahmen der Einsatzerprobung seiner R-7 Interkontinentalrakete vornehmen müssen. Doch nun hatte die Propaganda den Wert der Raumfahrt erkannt, zumal die USA dem anfänglich wenig entgegensetzen konnten. Insbesondere der sowjetische Staats– und parteichef Nikita S. Chrustschow, dessen Sohn seit März 1958 im OKB-52 von Wladimir N. Tschelomej arbeitete, entwickelte ein zunehmendes Interesse an Raketen und Raumfahrt. Dennoch konnte Koroljow seinen Entwurf für ein bemanntes Raumschiff den zuständigen Militärs nur „verkaufen“, weil er ihn als Variante des ersten sowjetischen Aufklärungssatelliten deklarierte.
Im Januar 1959 begannen unter der Leitung des Vizepräsidenten der sowjetischen Akademie der Wissenschaften die Vorbesprechungen zur Auswahl der Kandidaten für einen bemannten Raumflug. Auch wenn man sich hinsichtlich der tatsächlichen physischen und psychischen Anforderungen an die Kandidaten nicht vollends im klaren war, kam doch das Training der Militärpiloten den Vorstellungen am nächsten. Allerdings wurden auch die besonderen Fähigkeiten von Tauchern, Sportlern oder Kaskadeuren (Stuntmen) ernsthaft erörtert. Angesichts der Gewichts– und Platzbeschränkungen des geplanten 3KA Raumschiffs gab das OKB-1 zudem eigene Kriterien vor: Alter zwischen 25 und 30 Jahren, Größe maximal 1,70 bis 1,75 m und Gewicht nicht mehr als 70 bis 72 kg. Bis zum Sommer 1959 waren rund 3.000 Piloten gesichtet und befragt worden. Nur wenige schafften es in die nächste Auswahlrunde. Diese begann am 03.09.1959. Die Kandidaten wurden über ihre medizinische Vorgeschichte befragt, ihre Mentalität erforscht, persönliche Wünsche und Lebensumstände erkundet. Danach verblieben etwa 200 Kandidaten für das Programm „spezieller Flüge“. Ab dem 03.10.1959 liefen dann die medizinischen Auswahltests im Zentralen Forschungs-Krankenhaus für Luftfahrt No. 7 (russ. Центральный Научно-Исследовательский Авиационный Госпиталь). In kleinen Gruppen wurden die Bewerber nach Moskau bestellt und im ZNIAG rigorosen Tests unterzogen. Die Toleranz auf Belastungen in der Zentrifuge, in der Barokammer oder auf dem Drehstuhl wurde untersucht. Am 18.12.1959 erhielt auch Juri Gagarin seine Vorladung. Ende des Monats waren die letzten Tests abgeschlossen und die Piloten erhielten die Anweisung, zu ihren Einheiten zurückzukehren und auf weitere Befehle zu warten.
Während des Auswahlprozesses war deutlich geworden, daß es zum Training der künftigen Kosmonauten eines geeigneten Zentrums bedurfte. Das ZNIAG konnte dies nicht leisten. Schließlich wurde im Februar 1960 der Luftfahrtmediziner Jewgeni A. Karpow zum Kommandanten des neuen Kosmonauten Trainings Zentrum (russ. Центр Подготовки Космонавтов) berufen, das zu jener Zeit gerade zwei ältere zweistöckige Gebäude am Rande des Frunse Flughafens umfaßte. Nur einen Tag nach seiner Ernennung bestätigte Karpow am 25.02.1960 die 20-köpfige Auswahlgruppe der Kosmonautenanwärter. Ende Februar 1960 trafen die Kandidaten dann für weitere medizinische Untersuchungen im ZNIAG ein. Die ersten zwölf wurden am 07.03.1960 von General Nikolai P. Kamanin, dem das Raumfahrtprogramm unterstand, offiziell zum Raumfahrttrainingsprogramm abkommandiert. Gagarin, der erst 25 Jahre alt war und gerade einmal 230 Flugstunden vorweisen konnte, war unter ihnen. Die restlichen acht erhielten ihren Marschbefehl zwischen dem 09. März und dem 17. Juni. Ab dem 14.03.1960 trainierten die ersten Raumfluganwärter im ZPK. Grundlagen der Raumflugmechanik, Raumfahrtmedizin, Navigation, Kommunikation, Astronomie, Geophysik u.v.a.m. standen ebenso auf dem Programm, wie ein allgemeines, aber intensives, Fitneßprogramm. Experten des OKB-1 und anderer Konstruktionsbüros übernahmen die Einweisung in detailliertere Probleme des Raumflugs an Bord des 3KA Raumschiffs. Im April 1960 erhielten die Kandidaten ein intensives Fallschirmsprung-Training. Da der sowjetische Raumschiffentwurf im Gegensatz zur amerikanischen Mercury Kapsel kein Fluchtraketensystem vorsah, bestand die einzige Rettungsmöglichkeit bei einem Zwischenfall in der Startphase darin, sich aus der Kapsel zu katapultieren. Da auch die Landegeschwindigkeit der Kapsel vergleichsweise hoch lag, sahen die Planungen außerdem vor, daß der Kosmonaut von ihr getrennt an seinem eigenen Fallschirm landen sollte. Also mußten die Kosmonauten alle Aspekte des Fallschirmsprungs routiniert beherrschen. In ihrer bisherigen fliegerischen Ausbildung hatte dieser Aspekt bisher hingegen keine große Rolle gespielt. Nun aber verfügten alle Kandidaten über die Erfahrung aus vierzig bis fünfzig Absprüngen bei Tag und Nacht, über Land und Wasser und aus großer wie auch geringer Höhe. Einen weiteren Trainingsaspekt bildeten Parabolflüge an Bord der zweisitzigen Jettrainer MiG-15UTI oder der eines modifizierten Tu-104 Verkehrsflugzeugs. Das Flugtraining stand unter der Leitung des schon legendären früheren Testpiloten Mark L. Gallai.
Während das Trainingsprogramm der Kosmonauten an Konturen gewann, wurden die Beschränkungen des ZPK Geländes immer spürbarer. Die Luftwaffe begann eine neue Suche nach einem geeigneten Gelände. Fündig wurde man in der Nähe der Stadt Schtscholkowo vor den Toren Moskaus. Einerseits existierte hier eine gute Verkehrsanbindung nach Moskau, andererseits war die Gegend gut geeignet, die neue Anlage vor neugierigen Augen abzuschirmen. Die Nähe zum Militärflugplatz Tschkalowski, zur Militärakademie der Luftstreitkräfte in Monino, zur Akademie der Wissenschaften, dem OKB-1 und vielen anderen Zentren des Raumfahrtprogramms trug maßgeblich zu dieser Wahl bei. Am 29.06.1960 vollzog das ZPK offiziell den Umzug zu dem Areal, das heute als Sternenstädtchen Swjosdny Gorodok (russ. Звёздный Городок) bekannt ist. Zu dieser Zeit stand mit dem TDK-1 endlich auch ein erster einfacher Raumflugsimulator für das Training bereit. Aufgebaut worden war er in der Hochschule für Flugforschung (russ. Летно-Исследовательский Институт), wo auch die Tu-104 als fliegendes Laboratorium stationiert war. Aufgrund der beschränkten Trainingsmöglichkeiten am LII entschieden die Mediziner, zunächst lediglich eine kleinere Gruppe der Kandidaten hier auszubilden. Damit war am 30.05.1960 eine Vorauswahl für den ersten bemannten Raumflug getroffen. Gagarin hatte zu jener Zeit bereits die Aufmerksamkeit der Ausbilder auf sich gezogen. Egal ob Barokammer, Isolationskammer oder Zentrifuge, Gagarin hinterließ einen guten Eindruck. Und auch in der theoretischen Ausbildung konnte er mit ausgezeichneten Prüfungsergebnissen aufwarten.
Im April 1960 war auch die grundsätzliche Auslegung des nun Wostok genannten Raumschiffs im OKB-1 fixiert worden. Die Erprobung sollte mit dem einfachen Wostok 1 K Prototypen begonnen werden. Wostok 2 K war die unbemannte Variante als Basis des geplanten Aufklärungssatelliten. Und Wostok 3 K schließlich die bemannte Ausführung. Als im Frühsommer 1960 die NASA den Zeitplan für die ersten bemannten Mercury Flüge bekanntgab, stand für Koroljow fest, daß der erste bemannte Orbitalflug eines Kosmonauten unbedingt noch vor den ballistischen Flügen der Amerikaner stattfinden mußte. Anders gesagt, mußte die Erprobung des Raumschiffs bis zum Dezember 1960 abgeschlossen sein. Im April 1960 war der erste Wostok 1KP in Baikonur eingetroffen. Er verfügte weder über einen Hitzeschild noch über ein Lebenserhaltungssystem. Dennoch erhofften die Ingenieure, zahlreiche wertvolle Informationen zum Verhalten des Raumschiffs und der Arbeit seiner Systeme gewinnen zu können. Probleme bereitete die Entwicklung des „Tschaika“ Orientierungssystems, das dann auch in Baikonur nochmals ausgetauscht werden mußte. Schließlich erfolgte der Start mit einigen tagen Verspätung am 15.05.1960. Zur Erleichterung der Beteiligten brachte die Wostok 8K72 Rakete ihre Nutzlast ohne Zwischenfälle auf die vorhergesehen Bahn. Und auch die ersten Telemetriedaten sahen gut aus. Und so verlief auch der Flug. Die Mehrzahl der Systeme funktionierte innerhalb der vorgegebenen Parameter. Kurz vor der geplanten Zündung des TDU-1 Retrotriebwerks wurden jedoch Schwierigkeiten mit dem Infrarot-Sensor des Orientierungssystems deutlich. Eine Gruppe von Ingenieuren, unter ihnen der stellvertretende Chefdesigner des OKB-1, Boris Je. Tschertok, empfahl daher den Einsatz des Reservesystems. Der „Grif“ Sensor nahm die Sonne als Lagereferenz. Doch letztlich folgte man ihrer Empfehlung nicht. Prompt orientierte sich das Raumschiff falsch, als die Zündsequenz des Triebwerks eingeleitet wurde. Statt in die Atmosphäre abzutauchen (und dort zu verglühen), strandete der Korabl-Sputnik am 19.05.1960 auf einem höheren Orbit.
Nach diesem Fehlschlag griff das OKB-1 zu einer radikalen Maßnahme. Der Infrarotsensor wurde eliminiert. Neben dem Sonnensensor sollte zukünftig ein manuelles System, bei dem der Erdhorizont als diente, dem Kosmonauten als Alternative zur Verfügung stehen. Doch zunächst standen noch weitere Flüge des unbemannten Wostok 1 K Raumschiffs auf dem Programm. Das nächste Raumschiff wies bereits eine Reihe von Verbesserungen auf. Diesmal sollte der erste Versuch unternommen werden, einen Satelliten aus dem Erdorbit sicher zur Erde zurückzuholen. Zwei Hunde, „Tschaika“ und „Lisitchka“, sollten die Funktion des Lebenserhaltungssystems verifizieren. Doch nur 28,5 s nach dem Start am 28.07.1960 explodierte die Trägerrakete. Die Kapsel entkam zwar diesem Inferno, dennoch überlebten die Hunde den Zwischenfall nicht. Eine Wiederholung des Fluges wurde für den 15.08.1960 angesetzt. Technische Probleme mit der Rakete verzögerten den Start auf den 19.08.1960. Diesmal erreichte das Raumschiff die geplante Bahn. An Bord befanden sich u.a. die Hunde „Belka“ und „Strelka“. Ihr Verhalten wurde von zahlreichen Sensoren und zwei TV-Kameras überwacht. Im Hinblick auf einen bemannten Raumflug waren die Informationen, die sie lieferten, wenig erfreulich. Beide Hunde waren sehr apathisch und bewegten sich kaum. Schließlich erbrach sich „Belka“ auch noch. Dennoch wurde entschieden, den Flug über die geplante Dauer von einem Tag laufen zu lassen. Nachdem das „Tschaika“ IR-Orientierungssystem wie bereits beim ersten Korabl Flug versagt hatte, vertraute man diesmal im Gegensatz zu damals auf das „Grif“ Backup System. Die weitere Mission verlief planmäßig. In etwa 8 km Höhe wurde die Kabine mit einem Teil der Versuchstiere aus der abgesprengten Luke herauskatapultiert und landete sicher am eigenen Fallschirm. Neun Tage zuvor hatten die USA die Bergung der Kapsel von Discoverer XIII vermelden können. Dennoch war diese erfolgreiche Mission der entscheidende Durchbruch im Wostok Programm. Anfang September 1960 schlugen die führenden Köpfe des sowjetischen Raumfahrtprogramms dem Zentralkomitee der KPdSU die Durchführung eines bemannten Raumflugs im Dezember 1960 vor. Dort griff man den Vorschlag auf und erließ am 11.10.1960 Anweisungen, die dem Projekt die notwendige Unterstützung sicherten. Bis Ende des Jahres galt es nun ein intensives Erprobungsprogramm mit dem unbemannten Wostok 1 Testraumschiff und dem für bemannte Flüge vorgesehenen Wostok 3KA Modell zu realisieren. Gleichzeitig mußten die ersten Kosmonauten bis Anfang Dezember ihre Ausbildung abgeschlossen haben. Doch ein nicht unmittelbar mit dem Wostok Programm verbundenes Ereignis am 24.10.1960 veränderte alles. An diesem Tag kam es in Baikonur bei den Startvorbereitungen der ersten R-16 Interkontinentalrakete zu einer verheerenden Explosion. Ungefähr 130 Menschen, unter ihnen der Marschall der Raketentruppen, Mitrofan I. Nedelin, kamen in dem Feuerball um. Das Unglück lähmte nicht nur das gesamte sowjetische Raketen– und damit Raumfahrtprogramm. Die Aufarbeitung beschäftigte auch zahlreiche Experten in den Zulieferbetrieben. Und die Untersuchungen des KGB, der Sabotage vermutete, machten die Situation nicht leichter. Als das Wostok Programm wieder aufgenommen wurde, war klar, daß der Zeitplan nicht mehr zu halten war. Doch auch die NASA lag zu dieser Zeit hinter ihren ursprünglichen Vorstellungen zurück. Es bestand also noch immer eine realistische Chance, den Amerikanern zuvorzukommen. Am 01.12.1960 startete Korabl-Sputnik 3 . Die Mission verlief aus Sicht der Ingenieure und Raumfahrtmediziner sehr erfreulich, bis nach einem Tag das TDU-1 Triebwerk gezündet wurde, um die Rückkehr zur Erde einzuleiten. Das Triebwerk hatte eine Fehlfunktion, die zu einer verkürzten Brenndauer führte. Rasch angestellte Berechnungen bestätigten den Fehler. Nach weiteren anderthalb Erdumläufen trennte sich dann die Landesektion vom Rest des Raumschiffs. Doch da eine Landung auf sowjetischem Territorium nicht mehr sichergestellt war, griff in der Flugleitung niemand ein, als sich das Selbstzerstörungssystem aktivierte. Während die Kapsel beim Eintritt in die dichtere Atmosphäre abgebremst wurde, löste ein Verzögerungssensor die Sprengladung aus. Die Trümmer verglühten. Offiziell wurde lediglich gemeldet, daß wegen eines Orientierungsfehlers die Kapsel beim Wiedereintritt verglüht sei. Der Fehlschlag, der die Hunde „Ptscholka“ und „Muschka“ das Leben kostete, führte die Risiken des bemannten Raumflugs nochmals tragisch vor Augen. Dennoch wurde noch im Dezember das nächste Wostok Raumschiff startklar gemacht. Das Problem mit dem TDU-1 Triebwerk war rasch analysiert worden und entsprechende Änderungen wurden eingeführt. Endlich stand auch die Wostok 8K72 K Rakete mit dem stärkeren RD-0109 Triebwerk bereit. Am 22.12.1960 hob die Rakete von Baikonur ab. Doch bei T+425 s fiel die neue Drittstufe schon kurz nach ihrer Zündung aus. Eine Analyse ergab später die Zerstörung eines Gasgenerators als Ursache. Die Kapsel bewegte sich nun auf einer ballistischen Flugbahn mit einem Scheitelpunkt in 214 km Höhe. Das Notfallsystem wurde aktiviert und löste das Notlandeszenario aus. 3.500 km vom Startort entfernt bei Tura in der Steinigen Tunguska ging die Landekapsel nieder. Bergungsmannschaften empfingen ihre Funksignale und machten sich auf den Weg in das entlegene Gebiet. Daraufhin begann eine hektische Bergungsaktion. Am Landeort in Sibirien eingetroffen, fanden die Bergungsmannschaften am 24.12.1960 die noch mit Resten der Versorgungseinheit verbundene Landekapsel, deren Luke abgesprengt worden war, ohne daß das Katapultieren der Druckkabine mit den Hunden folgte. Die Bergung der Tiere 48 h nach dem Start bei –47 °C gestaltete sich sehr schwierig, nicht zuletzt weil zunächst der Selbstzerstörungsmechanismus der Kapsel entschärft werden mußte. Die beiden Hunde hatten den Flug überlebt, während die kleineren Versuchstiere sämtlich erfroren waren. Während die Hunde also am 26.12.1960 in Moskau ankamen, dauerte die endgültige Bergung der Kapsel bis Anfang Januar 1961. Bei deren Inspektion fanden sich Anzeichen einer ganzen Kette von Anomalien. So hatte sich das Raumschiff zwar planmäßig von der Rakete getrennt, doch die Abtrennung der Landekapsel von der Versorgungseinheit war mißlungen. Dann wurde die Luke abgesprengt. Im selben Augenblick (statt zweieinhalb Sekunden später) zündete auch der Treibsatz des Katapultsitzes, der sich dann auch prompt verkeilte. Und schließlich wurde ein durchgebranntes Kabel entdeckt, das die Sprengladung zur Selbstzerstörung deaktiviert hatte. Nach zwei Fehlstarts in Folge und der erkannten Vielzahl der Probleme war der erste bemannte Raumflug damit zunächst wieder in weite Ferne gerückt. Jedenfalls war der vorläufige Starttermin Februar 1961 nun hinfällig.
Vor der Freigabe bemannter Flüge forderte die staatliche Kommission mindestens zwei aufeinanderfolgende erfolgreiche unbemannte Missionen. Diese hoffte das OKB-1 nun mit den ersten Flügen der Wostok 3 A Variante zu demonstrieren. Vorgesehen waren die Flüge für den Februar 1961, verzögerten sich dann aber um einen Monat. Doch sie erfüllten die hochgesteckten Erwartungen. Sowohl Korabl-Sputnik 4 (09.03.1961) als auch Korabl-Sputnik 5 (25.03.1961) absolvierten nahezu perfekte Missionen gemäß des Flugplans, wie er für das erste bemannte Unternehmen ausgearbeitet worden war. Das war aber auch dringend notwendig, denn das amerikanische Mercury Programm gewann zunehmend an Schwung. Zwar wurden die Tests noch von wiederholten technischen Problemen beeinträchtigt, doch die Fortschritte waren unverkennbar. Auch der SK-1 „Sokol“ Raumanzug war nun flugqualifiziert. Zwei „Kosmonautenmannequins“ hatten die Lebensfunktionen eines Kosmonauten simuliert, der Raumanzug die adäquaten Bedingungen während des Raumflugs garantiert.
Anfang 1961 war auch das Netz an Bahnverfolgungsstationen für die bemannten Raumflüge (und interplanetare Missionen) komplettiert. Dreizehn dieser Stationen reichten von Leningrad im Westen bis nach Ulan Ude im Osten. Dazu kamen vier Bahnverfolgungsschiffe der ersten und drei Schiffe der zweiten Generation.
Bereits im Juli 1959 war mit dem Aufbau eines Kontrollzentrums für die bemannten Flüge in Bolschewo bei Moskau begonnen worden. Bolschewo 1, eine „geschlossene Stadt“, war bereits Heimat des Naturwissenschaftlichen Instituts No. 4 (russ. НИИ-4, Научно-Исследовательский Институт). Hier wurde nun auch das Kontrollzentrum angesiedelt.
Zu den weiteren organisatorischen Aufgaben zählten der Aufbau eines Expertenteams für die Bergung der bemannten Raumschiffe und ihr Training. Die Luftstreitkräfte bauten eine Flotte von 25 Transport– und Aufklärungsflugzeugen und 10 Hubschraubern wurde ergänzt von sieben Expertengruppen, die trainiert waren, per Fallschirm abzuspringen, um Hilfs– und Bergungsoperationen einzuleiten.
Während technisch nun also die Mindestvoraussetzungen für einen bemannten Raumflug geschaffen waren, absolvierten die sechs Kosmonauten der ersten Trainingsgruppe im Januar 1961 ihre Examen. Favoriten für den ersten Flug eines Menschen ins All waren nun Juri Gagarin, German Titow und Grigori Neljubow. Klarer Favorit war aber schon damals Gagarin, der nicht zuletzt bei Chefkonstrukteur Koroljow einen tiefen Eindruck hinterlassen hatte. So ist die Anekdote überliefert, wonach Gagarin, als er erstmals die Gelegenheit erhielt, in einem Wostok Raumschiff Platz zu nehmen, sorgsam seine Straßenschuhe auszog. Davon abgesehen überzeugte Gagarin aber auch durch seine gute Auffassungsgabe, das mit Auszeichnung bestandene Examen, ein freundliches offenes Wesen und gute Umgangsformen. Auch seinen Kosmonautenkollegen sahen in ihm den klaren Favoriten. Und auch sein familiärer Hintergrund empfahl ihn für die Aufgabe. Russe von Geburt, Eltern aus der Arbeiterklasse, verheiratet, Familienvater und Kandidat der KPdSU seit 1959.
Größter Rivale Gagarins um den Sitz im Wostok Raumschiff war Titow, der jüngste der Gruppe. Im Training hatten sich seine Leistungen stets auf Augenhöhe mit den denen Gagarins bewegt. Er galt zudem als einer der intellektuellsten Kandidaten. Allerdings war er gelegentlich auch etwas impulsiv und nicht so leicht zu formen, wie der nur wenig ältere Gagarin. Ein weiterer Makel war Titows Herkunft. Er stammte aus einer Lehrerfamilie und wuchs in einem Dorf im Altaigebirge auf. Und dann war da noch sein Name. Durfte der erste Sowjetmensch im Weltall einen deutschen Vornamen (Герман = dt. Hermann) tragen?
Grigori Neljubow schließlich stammte aus der Ukraine. Er war vermutlich einer der erfahrensten Piloten unter den zwanzig Kandidaten für einen Raumflug. Als einer der wenigen verfügte er über Flugerfahrung auf dem damaligen Hochleistungs-Jagdflugzeug MiG-19 . Und im Training unterstrich er mit ausgezeichneten Leistungen immer wieder seine herausragende Position. Doch war er es gewohnt, seine Meinung stets unverblümt kundzutun. Und er war weniger teamorientiert, als seine Kameraden.
Am 17.03.1961 flogen die drei Kandidaten für den ersten bemannten Raumflug nach Baikonur, um dort den Startvorbereitungen für Korabl-Sputnik 5 beizuwohnen und letzte Trainingseinheiten zu absolvieren. Am 28.03.1961 waren sie zurück in Moskau und wohnten einer Pressekonferenz bei, auf der die Ergebnisse der fünf erfolgreichen Korabl-Sputnik Missionen präsentiert wurden.
Einen Tag später stellte Sergej P. Koroljow die bisherigen Ergebnisse des Wostok Programms auch den Vertretern der staatlichen Kommission vor, die über die Freigabe des bemannten Starts entscheiden mußte. Diese akzeptierte seinen Vortrag und verfaßte ein Memorandum an das Zentralkomitee der KPdSU mit der Bitte um Freigabe des Starts für den Zeitraum 10. bis 20.04.1961. Die Antwort traf am 03.04.1961 ein. Das Präsidium des Zentralkomitees bestätigte die Vorschläge und autorisierte die vorgelegten Pressemitteilungen für den Fall eines erfolgreichen Starts, eines Fehlschlags oder einer Notsituation.
Am 08.04.1961 trat die staatliche Kommission erneut zusammen, um eine Reihe notwendiger Entscheidungen zu treffen. Dazu zählte auch die Wahl des Kandidaten für den ersten Raumflug. General Nikolai P. Kamanin, Leiter des Kosmonautenprogramms, nominierte Gagarin. Der Vorschlag wurde ohne lange Diskussion angenommen. Chruschtschow, dem die Akten aller drei Kandidaten vorgelegt worden waren, hatte die Auswahl für gut befunden, die endgültige Entscheidung aber in die Hände der Kosmonautenausbilder gelegt.
In einem Pavillon am Ufer des Flusses Syrdarja traf sich am 10.04.1961 die staatliche Kommission mit zahlreichen um das Wostok Programm verdienten Wissenschaftlern, Ingenieuren, Militärs und Parteifunktionären. Anwesend waren auch alle sechs Mitglieder der ersten Kosmonautengruppe. Insgesamt 70 Personen wohnten diesem historischen Treffen bei, das von Militärkameraleuten für die sowjetische Presse umfassend dokumentiert wurde. Gagarin, Titow und Neljubow hielten Dankesreden und Kamanin stellte schließlich Gagarin als denjenigen vor, der in zwei Tagen ins All fliegen sollte. Am Morgen hatten die Kosmonauten schon dem Transport der Rakete vom Montage– zum Startkomplex beigewohnt. Und am 11.04.1961 besuchten sie die Startrampe, um sich mit den meist jungen Soldaten und Offizieren zu treffen, die für die Startvorbereitungen verantwortlich waren. Die letzte Nacht vor dem Start verbrachten Gagarin und Titow auf Platz 2, einer kleinen Wohnanlage unweit des Startkomplexes. Zur Überraschung der Ärzte schliefen beide bemerkenswert ruhig. Nicht so Koroljow. Den Chefkonstrukteur plagte die Angst, seinem Traum vom Raumflug das Leben eines jungen Menschen geopfert zu haben.
Am Morgen des 12.04.1961 gegen 05:30 Uhr Moskauer Zeit wurden Gagarin und Titow geweckt. Nach einem kurzen Frühstück folgte eine letzte medizinische Untersuchung. Beide Kandidaten waren bereit für den Raumflug. Damit war endgültig klar, daß Titow die undankbare Rolle der Nummer zwei zufallen würde. Dennoch unterstützte er Gagarin beim Anlegen des Raumanzugs und hielt sich bereit, jederzeit einzuspringen. Kaum eine Stunde nach dem Wecken saßen beide Kosmonauten in dem kleinen Bus, der sie zur Startrampe bringen sollte. Dort wurden sie von Koroljow, Akademiemitglied Keldysch, General Kamanin und anderen Offiziellen begrüßt. Gagarin meldete dem Vorsitzenden der staatlichen Kommission seine Bereitschaft für die Mission. Dann betrat er den Aufzug, der ihn zur Spitze der Rakete bringen sollte, winkte ein
letztes Mal, und entschwand den Blicken der Umstehenden. Auf der obersten Plattform angekommen, half ihm der Hauptkonstrukteur des Wostok Raumschiffs, Oleg G. Iwanowski, persönlich in die enge Kapsel. Um 07:50 Uhr war die Luke hinter Gagarin geschlossen. Doch ein Sensor zeigte an, daß die Verriegelung nicht hermetisch war. Drei Techniker mußten daraufhin alle dreißig Schrauben wieder lösen, die Dichtungen prüfen und die Luke erneut schließen. Gerade eine halbe Stunde vor dem geplanten Start waren die Arbeiten erfolgreich abgeschlossen und die Techniker räumten hastig die Plattform.
Der Startzeitpunkt der Wostok Mission war präzise so berechnet worden, daß zum Zeitpunkt der Zündung des Bremstriebwerks über Afrika ein idealer Sonnenstand herrschte. Denn die Orientierung des Raumschiffs vor der Triebwerkszündung basierte, nachdem man den unzuverlässigen „Tschaika“ IR-Sensor eliminiert hatte, nun ausschließlich auf dem eigentlich als Backup vorgesehenen Sonnensensor. Pünktlich um 09:06:59.7 Uhr Moskauer Zeit hob die Wostok 8K72 K Rakete von Startrampe 5 auf Platz 1 in Baikonur ab. Es war der siebzehnte Start der dreistufigen R-7 Variante. Von den vorangegangenen Flügen waren sechs am Grundstufenpaket der Trägerrakte gescheitert, zwei weitere an der Oberstufe. Diese „Erfolgsbilanz“ von 50% war Gagarin ebenso wie Koroljow bewußt. Dennoch quittierte Gagarin das Abheben den Rakete mit seinem berühmten Ausruf „Pojechali!“, soviel wie „los gehts!“. Gut elf Minuten später hatte er als erster Mensch den Erdorbit erreicht. Die große Sorge Koroljows, Gagarin könne beim Versagen der Oberstufe im Südatlantik notwassern, war damit hinfällig. Doch ein neues Problem war stattdessen sichtbar. Die Umlaufbahn war deutlich höher ausgefallen als geplant. Offenbar hatte das Kontrollsystem der Rakete alles andere als perfekt funktioniert. Sollte das TDU-1 Triebwerk beim Retromanöver versagen, würde mehr Zeit vergehen, bis das Raumschiff auf natürlichem Wege wieder in die Atmosphäre eintrat. Alle Ressourcen waren aber auf maximal zehn Tage ausgelegt. Fraglich war somit, ob Gagarin ein solches Szenario überleben würde.
Auf der Erde verbreitete sich unterdessen die Nachricht vom ersten bemannten Raumflug. Allerdings verging fast eine Stunde, bis die sowjetische Nachrichtenagentur TASS die Nachricht offiziell machte. Dabei war vorgesehen gewesen, die vorbereitete Nachricht unmittelbar nach dem Start zu veröffentlichen für den Fall, daß Gagarin in eine Notsituation geriet und Hilfe benötigte. Gagarin, dessen Rufzeichen während der Mission „Kedr“ lautete, berichtete unterdessen vom Fortgang der Mission und seinen Eindrücken. Experimente gab es darüber hinaus für ihn nicht zu betreuen. Ohnehin war ein Eingreifen des Kosmonauten nur im äußersten Notfall vorgesehen. Das Kontrollsystem des Raumschiffs war mit einem sogenannten „logischen Schloß“ gesichert. Die fehlenden Zahlen, mit denen das System entsichert werden konnte, befanden sich in einem versiegelten Umschlag an Bord (allerdings hatten gleich mehrere Vertraute Gagarins ihm vor dem Start verbotenerweise den Code mitgeteilt). Im wesentlichen arbeiteten laut Gagarins Bericht, den er nach dem Flug vor der staatlichen Kommission abgab, die Systeme des Raumschiffs wie vorgesehen. Allerdings entschwebte ihm in der Schwerelosigkeit sein Stift, so daß er für den Rest des Fluges seine Beobachtungen nicht mehr notieren konnte und diese auf Band sprechen mußte.
Die Orientierung des Raumschiffs und die anschließende Zündung des TDU-1 Triebwerks um 10:25 Uhr Moskauer Zeit verliefen planmäßig. Doch nun geriet Gagarin in ernste Schwierigkeiten. Nach Brennschluß des Retrotriebwerks begann Gagarins Kapsel wild zu rotieren. Gagarin schätzte die Rate auf mindestens 30° pro Sekunde. Rund 10 Minuten hielt die Situation an, dann löste sich das Versorgungsmodul endlich von der Landekapsel, die sich nun auch wie vorgesehen stabilisierte. Das Problem sollte sich auch späteren Wostok Missionen wiederholen. Landekaspel und Versorgungs-/Antriebsmodul wurden während des Fluges von Spannbändern zusammengehalten. Nach dem Retromanöver sollten spezielle Schlösser die Spannbänder öffnen und sich die Versorgungsleitungen kappen. Diese Trennung verlief aber häufig nicht sauber. Auf der ballistischen Abstiegsbahn erreichte die Belastung für den Kosmonauten kurzzeitig 10 g. Gagarin hatte zunächst Sorge, aufgrund der Stabilisierungsprobleme weit über das Zielgebiet hinauszuschießen. Eine rasche Kalkulation überzeugte ihn aber immerhin, noch auf sowjetischem Territorium niederzugehen. In rund 7.000 m Höhe erfolgte schließlich das Absprengen der Einstiegsluke. 2 s später katapultierte sich Gagarin aus dem Raumschiff. In 4.000 m Höhe löste er sich von seinem Konturensitz und schwebte am Fallschirm weiter zur Erde. Gagarin hatte nach dem Ausstieg aus der Kapsel einige Probleme mit dem Auslösen des Haupt– und Reserveschirms. Zudem war er durch den Raumanzug in seinen Bewegungen sehr eingeschränkt. Auch die Kapsel hatte mittlerweile zunächst einen Pilotschirm ausgestoßen, dem in 2.500 m Höhe der Hauptschirm folgte. Kapsel und Kosmonaut landeten im Abstand weniger Sekunden um 10:55 Uhr Moskauer Zeit nahe der Stadt Engels in der Region Saratow. Gagarin war die Gegend sehr vertraut. Noch in der Luft hatte er erkannt, daß er sich gar nicht weit vom vorgesehenen Zielgebiet befand. An der Technischen Universität von Saratow hatte er studiert und ein Jahr zuvor ganz in der Nähe sein Fallschirmsprungtraining absolviert. Gagarin gelang es, eine Landung in der Wolga zu vermeiden, die hier mehrere Kilometer breit war. Knapp zwei Kilometer von ihrem Ufer landete er auf freiem Feld. Seine Kapsel kam 3 bis 4 km vom Dorf Uzmorje nieder.
Nach seiner Landung galt Gagarins erste Sorge der Benachrichtigung seiner Vorgesetzten. Er öffnete seinen Helm und entledigte sich des Fallschirms. Dann erklomm er einen kleinen Hügel, von wo aus er eine Frau mit einem kleinen Mädchen erblickte. Die beiden fürchteten sich offensichtlich vor dem fremden Menschen, der sich da in seinem ungewöhnlichen leuchtend orangen Anfzug näherte. Doch mit Zurufen konnte Gagarin die beiden davon überzeugen, kein abgeschossener amerikanischer Spion zu sein. Nicht umsonst hatte ihm ein Techniker noch kurz vor dem Start die Buchstaben CCCP auf den Helm gepinselt. Der Abschuß des CIA Piloten Gary Powers lag schließlich erst ein Jahr zurück. Die Förstersfrau Anna A. Tachtarowa und ihre sechsjährige Enkelin Rita brachten
Gagarin zu einem Lager von Feldarbeitern, von wo aus er schließlich Nachricht zu seinem erfolgreichen Flug geben konnte. Inzwischen hatte sich herumgesprochen, wen die Kolchose da beherbergte. Immer mehr Menschen drängten sich um den ersten Kosmonauten der Welt. Doch wenig später traf ein erstes Vorauskommando der Bergungsmannschaften ein und brachte Gagarin zu einer Kaserne unweit von Engels, wo er ein Glückwunschtelegramm von Nikita S. Chruschtschow erhielt und dem Oberbefehlshaber der Luftwaffe telefonisch den ersten offiziellen Rapport zu seinem Flug gab. Unmittelbar darauf erhielt er auch zwei Glückwunschanrufe von Nikita S. Chruschtschow und Leonid I. Breschnew. Doch dann brachte man Gagarin nach Kuibyschew (heute Samara), wo er von Ärzten untersucht wurde, sich dann aber endlich von den Strapazen erholen durfte.
Unterdessen hatte TASS um 12:33 Uhr Moskauer Zeit, über anderthalb Stunden nach der Landung, die Nachricht vom glücklichen Ende des ersten Raumflugs veröffentlicht. Das Raumschiff sei sicher in „einem vorbestimmten Bereich“ der Sowjetunion gelandet.
Am Morgen des 13.04.1961 berichtete Gagarin umfassend vor der staatlichen Kommission über den Verlauf seines Fluges und beantwortete die Fragen der dort versammelten Experten. Dann, am 14.04.1961, traf er endlich auf dem Flughafen Wnukowo in Moskau ein. Tausende Moskowiter erwarteten ihn dort bereits. In einem Autokorso ging es dann in die Moskauer Innenstadt, wo ihn Chruschtschow, Breschnew und andere Staats– und Parteigrößen des Landes auf der Tribüne des Lenin-Mausoleums erwarteten. Hunderttausende säumten unterdessen die Straßen. Gagarin schritt über einen roten Teppich zur Tribüne, salutierte, und meldete den Vollzug der ihm von der Partei gestellten Aufgabe.
Die Meldung von seinem geglückten Raumflug ging in Windeseile um die Welt. Das Ereignis beherrschte die Titelseiten der Tageszeitungen auf allen Kontinenten. Bilder des jungenhaft lächelnden Gagarin beherrschten die Wochenschauen in den Kinos und bestimmten die Nachrichtensendungen im Fernsehen. Das 20. Jahrhundert hatte einen neuen Helden!
Für Gagarin reihten sich nun Pressekonferenzen und Empfänge aneinander. Bald schon ging der inzwischen zum Major beförderte Gagarin als Aushängeschild des Kommunismus auf Tournee um die Welt. Jetzt machte sich die Wahl des offenen, freundlichen und stets gewinnend lächelnden Gagarin als erstem Kosmonauten bezahlt. In aller Welt flogen ihm die Herzen zu. Innerhalb weniger Jahre absolvierte Gagarin mehr als 30 Auslandsreisen. Kuba, Ägypten und Indien standen ebenso auf dem Programm, wie New York, Tokyo oder London. Gagarin wurde wie ein Popstar gefeiert und repräsentierte das menschliche Antlitz des Kommunismus. Inmitten des Kalten Krieges trug dieser junge Mensch, Bürger des von vielen gefürchteten oder gar gehaßten „Roten Riesenreiches“, auf seine Art zur Entspannung bei.
Die persönlichen Lebensumstände Gagarins veränderten sich mit seiner Heldentat grundlegend. Auch wenn die ihm gewährten materiellen Vergünstigungen heute eher bescheiden wirken, waren sie für einen durchschnittlichen Sowjetbürger jener Zeit doch wahrer Luxus. Seine Eltern erhielten ein kleines Fertighaus mit drei Räumen, einem Fernseher, einem Radio und Möbeln. Gagarin eine möblierte Vierzimmer-Wohnung samt Fernseher, Musiktruhe und Haushaltsgeräten. Aber auch ein Auto, einen „Wolga“ GAS-21 , sonst nur Funktionären vorbehalten, durfte er nun sein eigen nennen.
Doch der Prominentenstatus hatte auch Schattenseiten. Gagarin litt darunter, den Fragen der internationalen Journalisten zu Details seines Raumflugs ausweichend antworten zu müssen oder sie gar offen zu belügen. Denn die sowjetischen Offiziellen hatten Angst, daß die FAI (Fédération Aéronautique Internationale) den ersten Raumflug nicht als Rekordflug anerkennen würde, weil Gagarin nicht in seinem „Fluggerät“ gelandet war, wie es die Regeln für Rekordflüge mit Flugzeugen vorschrieben. Und auch das Aussehen seines Raumschiffs, konstruktive Details der Trägerrakete, ja selbst die Lage des Kosmodroms, unterlagen weiter einer unsinnigen Geheimhaltung. Gagarin, der ein leidenschaftlicher Pilot war („Als Flieger muss man fliegen, immer fliegen…“), erhielt aus Sicherheitsgründen ein Flugverbot auferlegt. Auch das Risiko, ihn bei einem weiteren Raumflug zu verlieren, wollte man nicht eingehen. Gagarin rebellierte. Alkoholprobleme und Affären wurden ihm nachgesagt. Doch er fing sich. Seine Familie gab ihm Halt. Mit dem eisernen Willen, den er schon als junger Mann bewiesen hatte, erkämpfte er sich seinen Platz zurück in der Trainingsgruppe der aktiven Kosmonauten. Er stand als Double für den Flug von Sojus 1 bereit, der für seinen Freund Wladimir Komarow tödlich endete. Damit war ein weiterer Raumflug für ihn erneut in weite Ferne gerückt. Gagarin gelang es immerhin durchzusetzen, daß er sein Pilotentraining wieder aufnehmen durfte. Ein Jahr später, am 27.03.1968, verunglückte er unter nie völlig geklärten Umständen bei einem Trainingsflug mit seinem Fluglehrer Wladimir Serjogin. Er wurde nur 34 Jahre alt.
Bis heute wirkt aber sein Vermächtnis fort. Allen Versuchen zum trotz, ihn als willenloses Testsubjekt auf einer Propagandamission der Sowjets darzustellen, bleibt Gagarin der Mensch, der der das Tor ins Weltall für die gesamte Menschheit aufgestoßen hat. Und ganz sicher war er nicht der schlechteste Repräsentant, den man sich für diese Aufgabe wünschen konnte. Der 12. April wird sei 1962 als „Tag der Kosmonautik begangen“. Und seit einigen Jahren feiern Jugendliche in aller Welt „Yuri’s Night“ mit Parties auf ihre Art…