Rund 1½ Jahrzehnte nach den ersten Schritten Indiens hin zu einem eigenen Raumfahrtprogramm stand die Raumfahrtbehörde ISRO im Sommer 1979 vor einem großen Schritt. Hatte man am 21.11.1963 noch eine US Nike-Apache Höhenforschungsrakete zum Start einer eigenentwickelten Nutzlast unter Aufsicht der UNO eingesetzt, wurde an diesem Tag die eigenentwickelte vierstufige Satellitenträgerrakete SLV-3 in Sriharikota aufgerichtet. Sehr früh hatten die indischen Experten ihr Augenmerk innerhalb des Raumfahrtprogramms auf dessen praktischen Nutzen gerichtet. Reine Forschungsmissionen traten z.B. zugunsten des Einsatzes meteorologischer Raketen in den Hintergrund. Indien als führende blockfreie Nation verstand es dabei geschickt, sich sowohl der Unterstützung westlicher Staaten als auch der Sowjetunion zu versichern. Vor allem Frankreich, die USA und die Sowjetunion lieferten Hardware und know-how. Diese Nationen schätzten auch die Gelegenheit, von der Thumba Equatorial Rocket Launching Station (TERLS) am (magnetischen) Äquator die Ionosphäre sondieren zu können. Das Forschungs– und Entwicklungsprogramm stand dabei unter Schirmherrschaft der UNO, auch um einen militärischen Mißbrauch der Raketentechnologie zu verhindern. Am 15.08.1969 wurde mit der Gründung der Indian Space Research Organisation auch offiziell die Arbeit an einem nationalen indischen Raumfahrtprogramm aufgenommen. Zunächst konzentrierte man sich dabei auf die Entwicklung einer eigenen Serie von Höhenforschungsraketen („Rohini“, „Menaka“), deren erste im November 1967 startete. Bis dahin waren u.a. „Centaure“ Raketen gestartet worden, die in Lizenz von Sud Aviation gefertigt worden waren. Mit diesem Programm konnten vielfältige Kenntnisse gewonnen werden, insbesondere hinsichtlich der Fertigung von Feststoffantrieben. Die meist noch sehr jungen Wissenschaftler und Techniker, die an dem Programm beteiligt waren, planten jedoch bereits die Entwicklung einer eigenen mehrstufigen Rakete, die zum Start eines Satelliten geeignet war. A. P. J. Abdul Kalam, später verantwortlich für die Entwicklung der SLV-3 und der militärischen „Agni“ Rakete, hatte 1963/64 ein Trainingsprogramm in den USA besucht und dabei u.a. die „Scout“ Rakete der NASA kennengelernt. Auf seine Anregung hin bat das Indian National Committee for Space Research (INCOSPAR) 1965 offiziell die NASA um Hilfe bei der Entwicklung einer indischen Variante dieser vergleichsweise einfachen vierstufigen Feststoffrakete. Diese wurde von den USA in den 60er Jahren „befreundeten Nationen“ (Frankreich, Großbritannien, Italien, Bundesrepublik Deutschland) zum Start von Forschungssatelliten angeboten. Gegen Bezahlung. Und so fiel auch die Antwort der NASA aus. Man war bereit, unter den genannten Bedingungen „Scout“ Starts für Indien vorzunehmen. Einem weitergehenden Technologietransfer stand man aber skeptisch gegenüber. Hier hatte das Office of Munitions Control des Department of State das letzte Wort. Dennoch übermittelte man eine Vielzahl nicht als geheim gekennzeichneter Konstruktions– und Entwicklungsunterlagen nach Indien. Konzeptionell war damit der Grundstein für die Entwicklung des ersten indischen Satellitenträgers gelegt. Offiziell wurde das SLV-3 Programm zwar erst im März 1973 begonnen. Tatsächlich war man aber bereits seit dem Ende der 60er Jahre mit dem Reverse-Engineering der US Rakete beschäftigt. Da man aber nur über eher allgemeine Unterlagen zur „Scout“ verfügte und zudem die technologische Basis eine 1:1 Übertragung nach Indien nicht zuließ, diente das US Vorbild letztlich eher als Grundlage für die konzeptionelle Auslegung des eigenen Entwurfs. Wie die meisten „Scout“ wurde auch die SLV-3 vierstufig ausgelegt. Alle Stufen erhielten Feststofftriebwerke, die Steuerung war eher simpel. Jedoch geriet das Masseverhältnis wesentlich ungünstiger, die Nutzlast von knapp 40 kg entsprach etwa der der frühesten „Scout“ Modelle. Auch bei der Zusammensetzung des Treibstoffs ging man notgedrungen eigene Wege. Für die Oberstufen der Rakete wurde der neue Treibstoff HEF 20 (High Energy Fuel 20 ) entwickelt, der ein Substitut für moderne CTPB (carboxyl terminated polybutadiene) Treibstoffe darstellte. Auf dem Gelände des neuen Raumfahrtzentrums Sriharikota entstanden die erforderlichen Einrichtungen, in denen die einzelnen Feststofftriebwerke der SLV-3 bzw., im Fall der Erststufe, die drei einzelnen Segmente gefertigt wurden. Teile der Ausrüstung wurden in den Jahren 1969/70 noch aus den USA bezogen. Seit 1975 wurden hier die Triebwerke der Höhenforschungsraketen gefertigt. 1977 ging die Anlage mit ihrer vollen Kapazität von 250 Tonnen/Jahr in Betrieb. Damals war sie eine von nur acht vergleichbaren auf der Welt. Die beiden ersten Stufen wurden konventionell mit einem Metallgehäuse ausgeführt, während die Oberstufen bereits aus glasfaserverstärktem Kunststoff gefertigt wurden. Die benötigten Maschinen entstanden in House. Schritt für Schritt eigneten sich die einheimischen Experten das Wissen und die Erfahrungen an, die für die erfolgreiche Umsetzung eines für ein Land wie Indien extrem anspruchsvollen Projekts benötigt wurden. Während einerseits die Entwicklung der Trägerrakete Fortschritte machte, unternahm die Luftfahrtindustrie des Landes ebenfalls erste Schritte hin zum Aufbau einer Satellitenfertigung. Die ersten Satelliten „Aryabhata“ und „Bhaskara“ wurden noch mit sowjetischer Hilfe und unter Verwendung im Ausland eingekaufter Baugruppen gebaut. Die für die SLV-3 vorgesehenen „Rohini“ Satelliten entstanden bereits ohne diese Hilfe. Hilfreich bei der Entwicklung von Indiens erstem Satellitenträger waren auch die guten Beziehungen zur französischen Luft– und Raumfahrtindustrie. Zeitweise war sogar geplant, eine Modifikation der vierten SLV-3 Stufe als Endstufe der französischen „Diamant“ Rakete einzusetzen. Die deutsche DFVLR unterstützte die ISRO dagegen mit Meßkampagnen im Windkanal. Und trotz aller Vorbehalte verweigerte auch die NASA ihre Unterstützung nicht ganz. Anderes benötigtes Inventar konnte man günstig auf dem Weltmarkt einkaufen, so z.B. eine komplette Satelliten-Bodenstation der ELDO, die man in Australien fast zum Schrottpreis erstehen konnte.
Nachdem die einzelnen Stufen der SLV-3 bei Prüfstandversuchen und als Bestandteil von Höhenforschungsraketen flugqualifiziert waren, stand im Sommer 1979 der Jungfernflug der neuen Rakete an. Am 10.08.1979 hob die SLV-3 E1 vom Raumfahrtzentrum SHAR ab. Zur grenzenlosen Enttäuschung der am Projekt Beteiligten endete der Flug nach wenigen Minuten im Golf von Bengalen. Der Kopf der ISRO, Prof. Satish Dhawan, trat der Presse gegenüber und mußte den Fehlschlag auch gegenüber der Politik verantworten, die einen Erfog des Programms bis 1980 gefordert hatte. Schützend stellte er sich vor die Beteiligten des SLV-3 Programms. Ihm gelang es, die Unterstützung der Indischen Regierung für das Projekt zu erhalten. Als Techniker und Wissenschaftler konnte er die tatsächlichen Chancen auf Erfolg im ersten Versuch bei einem solch komplexen Programm realistisch einschätzen. Obwohl die Untersuchung des Fehlstarts eine unangenehme Wahrheit zutage förderte. Möglicherweise hätte der Start in einem Erfolg enden können, wäre nicht ein bei den Startvorbereitungen entdeckter Defekt einfach ignoriert worden. Demnach war 3 min vor dem Start ein defektes Ventil festgestellt worden, aus dem Salpetersäure austrat, die im Lageregelungssystem der zweiten Stufe eingesetzt wurde. Der Startleiter, A. P. J. Abdul Kalam, beriet sich mit den anderen Mitgliedern der Startkommission, die versicherten, die Menge an RFNA sei auch unter diesen Umständen für einen sicheren Start ausreichend. Kalam überging daraufhin die Computermeldung und gab den Start frei… Immerhin hatte die aus drei
Segmenten zusammengesetzte erste Stufe der Rakete, eine der besonders kritischen Komponenten, einwandfrei funktioniert. Auch gelang die Zündung der Oberstufen. Nachdem aber die Lageregelung der Zweitstufe ausgefallen war, folgte die Rakete einer unkontrollierbaren Bahn und stürzte nach 317 s ab.
Indien war auf dem Schritt zur nächsten Weltraummacht nach der Sowjetunion, den USA, Frankreich, Großbritannien, China und Japan gestolpert, aber nicht zu Boden gegangen. Nach gründlicher Analyse aller technischen und organisatorischen Faktoren, die zu dem Fehlschlag beigetragen hatten, startete am 18.07.1980 die nächste SLV-3 . Und diesmal mit Erfolg. Der kleine „Rohini“ Experimentalsatellit erreichte eine Bahn nahe der geplanten. Bald schon ging die ISRO zum Bau stärkerer Raketen über. Die ASLV erwies sich als unerwartet komplex zu entwickeln, obwohl sie nahezu komplett auf Baugruppen der SLV-3 aufbaute. Die PSLV entwickelte sich nach Anfangsschwierigkeiten zu einem echten Erfolg und mit der GSLV verwirklichte die ISRO im Jahr 2001 endlich den Traum Vikram Sarabhais, der 1970 das Ziel gesteckt hatte, binnen 10 Jahren nicht nur eigene geostationäre Satelliten bauen, sondern auch selbst starten zu können. 30 Jahre nach dem ersten Versuch eine Satelliten zu starten ist Indien heute im Kreis der führenden Weltraumnationen sicher angekommen.