Address:
Die ELDO Lancaster House Konferenz

Hintergrundartikel

ELDO LogoDie (west-)europäischen Bemühungen um einen autarken Zugang zum Weltraum nahmen auf einer Konferenz Gestalt an, die zwischen dem 30.10. und 03.11.1961 in Lancaster House (London) abgehalten wurde. Treibende Kraft hinter dem Projekt einer europäischen Trägerrakete war ausgerechnet Großbritannien, daß sich bis dahin nicht übermäßig um eine europäische Integration bemüht hatte. Doch der sich abzeichnende Erfolg der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und heimische wirtschaftliche Probleme veranlaßten den britischen Premierminister Harold Macmillan jedoch, sich um einen Beitritt Großbritanniens zur EWG zu bemühen.
Großbritannien hatte nach dem zweiten Weltkrieg viel Energie und Geld darauf verwandt, eine eigene nukleare Abschreckungsstreitmacht aufzubauen. Einerseits tatsächlich als Gegengewicht zur Sowjetunion, andererseits als Ausdruck des noch immer kultivierten Großmachtanspruchs in der Tradition des britischen Empire. Höhepunkt dieser Entwicklung war die Idee einer eigenen Mittelstreckenrakete. Im Frühjahr 1954 hatte der US Verteidigungsminister Charles E. Wilson den Vorschlag unterbreitet, daß sich Großbritannien an der gemeinsamen Entwicklung von Atomraketen beteiligen solle. Während sich demnach die USA auf ICBMs (Intercontinental Ballistic Missiles) konzentrieren sollten, wäre Großbritannien die Entwicklung von IRBMs (Medium Range Ballistic Missiles) zugefallen. Sehr bald zeichnete sich jedoch ab, daß Großbritannien nur wenig zu dieser Partnerschaft beitragen konnte. Und unter dem Druck der sowjetischen Erfolge in der Raketen– und Atomwaffenentwicklung erhielt die Entwicklung jedweder Langstreckenraketen in den USA höchste Priorität. Im November 1955 wurden die US Streitkräfte von Wilson informiert, daß sie ihre Projekte für eine IRBM schnellstmöglich vorantreiben sollten. Daraus resultierten binnen weniger Monate die Jupiter (US Army) und Thor (USAF) IRBM. Großbritannien beschloß, an der Entwicklung einer eigenen IRBM, Codename Blue Streak, festzuhalten. Deren Blue Streak RaketeEntwicklung kam jedoch nur langsam voran, obwohl man für den Antrieb schließlich auf Lizenzen der US Firma Rocketdyne zurückgreifen konnte. Im Februar 1958 unterzeichneten beide Länder dann aber einen Vertrag, der die Stationierung von 64 IRBM des Typs Thor in Großbritannien regelte. Um die Blue Streak Entwicklung zu retten, wurde seitens der Politik gefordert, deren Reichweite auf 2.500 Meilen zu vergrößern. Zudem war nun eine Stationierung in geschützten Untergrund-​Silos geplant. Der militärische Nutzen des Projekts wurde aber zunehmend kritisch hinterfragt. Da war einerseits die Reichweite, die es nur erlaubte, einen kleinen Teil der europäischen Sowjetunion zu erreichen. Und andererseits mußte man sich fragen, inwieweit eine Rakete mit Kerosin-​LOX Antrieb zu einem Vergeltungsschlag taugte. Die Stationierung einer offenkundigen Erstschlagswaffe war aber nicht opportun. Im April 1960 beschloß die britische Regierung die Einstellung des IRBM Programms. Den Kern der nuklearen Abschreckung sollten nun die Abstandswaffe AGM-​48  Skybolt und die SLBM (Submarine Launched Ballistic Missile) UGM-​27  Polaris bilden, die aus den USA bezogen werden sollten. Man wollte aber die Entwicklungskosten (nach verschiedenen Quellen bis dahin 60 bis 65 Mio. £) noch nicht ganz abschreiben und beauftragte daher den Minister für Luftfahrt, Peter Thorneycroft, Sondierungsgespräche mit anderen westeuropäischen Ländern über das Projekt einer Raumfahrtträgerrakete auf Basis der Blue Streak aufzunehmen. Dabei konnte man auf Studien zurückgreifen, die man bereits 1959 diesbezüglich angestellt hatte.
Die britischen Vorschläge stießen vor allem bei Frankreich auf Interesse, das hinsichtlich Atomwaffen und Trägerraketen einen ähnlichen Entwicklungsstand hatte, sich nun aber indirekt Zugang zu geheimer US Technologie erhoffte. Während die britische Seite also die Forschungsrakete Black Knight als zweite Stufe favorisierte, bestand Frankreich auf seiner Véronique. Großbritannien gab dieser Forderung schließlich nach, hatten doch bereits eigene Studien gezeigt, daß die Black Knight keine optimale Wahl war. Da auch andere Länder inzwischen ihr Interesse an einer Beteiligung an dem Projekt bekundet hatten, luden die Regierungen Großbritanniens und Frankreichs Anfang 1961 zu einer Konferenz nach Strasbourg ein. Noch wenige Tage vor ihrem Beginn war ein Erfolg aber äußerst fraglich. Doch Frankreichs Präsident Charles de Gaulle setzte sich persönlich mit Nachdruck für das Projekt ein. Offiziell ein bilaterales Treffen, waren auch Belgien, Dänemark, die Bundesrepublik Deutschland, Italien, die Niederlande, Norwegen, Österreich, Schweden, die Schweiz und Spanien zu der Konferenz eingeladen und berieten vom 30.01. bis zum 02.02.1961 über die Idee eines eigenen europäischen Trägers.
Trotz teils gegensätzlicher nationaler Interessen wurde auf der Konferenz von Strasbourg die grundsätzliche Übereinkunft erzielt, das Projekt einer europäischen Trägerrakete weiter zu verfolgen. Dabei mangelte es auch nicht an Kritikern dieser Idee. Wissenschaftler fürchteten, daß die Entwicklung der Rakete zu Lasten ihrer Budgets gehen würde. Andere Experten und Politiker verwiesen darauf, daß die USA eben erst angeboten hatten, die Satelliten befreundeter Nationen zu Vorzugskonditionen zu starten. Insbesondere Italien wurde dabei von den USA umworben. Wobei diese durchaus nationale Interesse mit ihrem großzügigen Angebot verbanden. Denn gerade wurden die ersten Grundzüge einer sich entwickelnden kommerziellen Raumfahrt erkennbar. Die US Dominanz auf diesem Gebiet sollten die Bestrebungen der europäischen Partner nicht gefährden. Viele Fragen blieben in Strasbourg zudem ungeklärt. So z.B. die, wer die dritte Stufe der Rakete entwickeln sollte. Deutschand hatte dazu widersprüchliche Signale gesendet. Wirtschaftsminister Ludwig Erhard und Außenminister Heinrich von Brentano hatten öffentlich ihre Unterstützung für das Projekt bekundet. Verkehrsminister Hans-​Christoph Seebohm hingegen favorisierte eine Lizenzfertigung von US Raketen. Seine Argumentation, die sich unverkennbar auf die Expertise des anerkannten Raumfahrtexperten Eugen Sänger bezog, war, daß ohnehin bald wiederverwendbare Raumtransporter den Satellitentransport übernehmen würden. Demnach war allenfalls ein kurzfristiges Engagement in die „Brückentechnologie“ konventioneller ballistischer Raketen sinnvoll.
Nachdem sich die Befürworter einer Teilnahme Deutschlands an dem Projekt eines europäischen Satellitenträgers durchgesetzt hatten, beschloß die Bundesregierung am 28.06.1961 auch formal eine Beteiligung. Das stärkte europaweit die Befürworter des Programms, auch wenn es im Hinblick auf die Geschichte ebenso kritische Stimmen gerade zur Einbeziehung Deutschlands gab.
Ähnlich unentschlossen hatte sich Italien hinsichtlich einer möglichen Beteiligung gezeigt. Als Deutschland im Sommer 1961 seine Unterstützung zugesichert hatte, erhielt es informell die Zusage, daß es die dritte Stufe der neuen Rakete entwickeln dürfe. Für Italien blieb damit als möglicher industrieller Beitrag lediglich die Entwicklung eines Testsatelliten und der Nutzlastverkleidung. Außerdem hatte die italienische Regierung erst im August 1961 ein nationales 3-​Jahres-​Programm zur Raumfahrt beschlossen, das u.a. die Errichtung der schwimmenden Startplattform San Marco und Starts amerikanischer Scout Raketen von dort aus vorsah. Als im September 1961 eine britische Delegation zu Sondierungsgesprächen in Rom eintraf, machten die namhaften italienischen Wissenschaftler Edoardo Amaldi und Luigi Broglio ihre ablehnende Haltung nochmals deutlich.
Zur Klärung der nächsten Schritte lud Großbritannien dennoch die potentiellen Partner einschließlich Italien für den Herbst zu einer weiteren Konferenz nach London. Tatsächlich vertreten waren diesmal neben dem Gastgeber Großbritannien auch Australien, Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Italien und die Niederlande. Norwegen, Schweden und die Schweiz schickten lediglich Beobachter. Und tatsächlich brachte diese Konferenz vermeintlich den Durchbruch, allerdings ging man hierzu zahlreiche Kompromisse ein, die sich später als sehr kontraproduktiv erwiesen. Um die Entwicklung möglichst schnell voranzutreiben, entschied man sich, die bisher zwischen Frankreich und Großbritannien erreichten bilateralen Vereinbarungen möglichst nicht anzutasten. Diese betrafen die Entwicklung der ersten bzw. zweiten Stufe, den Austausch notwendiger Informationen und die Einbeziehung von Industrie und Forschung. Deutschlands Rolle wurde ebenso bestätigt. Die italienischen Delegierten hatten hingegen keine Entscheidungsbefugnis. Keine Einigung konnte auch bezüglich der deutschen Forderung nach Bereitstellung von Finanzmitteln zum Studium technologisch fortgeschrittener Trägersysteme erlangt werden. Als Budget zur Entwicklung des europäischen Trägers wurden 70 Mio. £ über einen Zeitraum von fünf Jahren festgesetzt. Basierend auf einer Schätzung Großbritanniens. Offen blieb, wie in dem (nicht unwahrscheinlichen) Fall verfahren werden sollte, daß die Finanzmittel nicht ausreichten. Ebenso gab es keine Klärung der Frage, wer den italienischen 10% Anteil übernehmen würde, sollte sich das Land gegen eine Kooperation entscheiden. Zudem ließ Frankreich erkennen, daß man sich in diesem Fall ebenfalls aus dem Projekt zurückziehen würde. Unmittelbar vor Ende der Konferenz schockierte Italien die anderen Nationen zudem, als der damalige italienische Verteidigungsminister Giulio Andreotti am 02.11.1961 die mit den USA vereinbarte Kooperation im San Marco Scout Programm öffentlich machte.
Die Lancaster House Konferenz vom 30.10.-03.11.1961 erbrachte trotz aller offenen Fragen das nachhaltige Ergebnis, daß vereinbart wurde, mit den Vorbereitungen zur Einrichtung einer European Launcher Development Organisation auf Expertenebene fortzufahren. Sie kann somit als Geburtsstunde der ELDO angesehen werden. Der britische Minister Thorneycroft sprach auf der abschließenden Pressekonferenz sogar von, daß das Projekt „probably the biggest technological effort any group of nations has attempted in history“ sei.
Cora StartBereits im November sollten die Expertenteams ihre Arbeit aufnehmen. In London war man davon ausgegangen, daß bis zur Unterzeichnung des Vertragswerks zur ELDO Gründung nur wenige Wochen bis Monate vergehen würden. Bis dahin blieb auch die praktische Finanzierung der Organisation weitgehend ungeklärt. Tatsächlich kam es erst am 29.03.1962 zur Unterzeichnung der Gründungsurkunde der ELDO durch Vertreter Australiens, Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens und der Niederlande (Belgien folgte erst am 02.04.1964 und Italien gar erst am 04.03.1965). Dennoch legten die viertägigen Beratungen de facto den Grundstein für den ersten Versuch westeuropäischer Staaten, einen von den Raumfahrtgroßmächten unabhängigen Zugang zum Weltraum zu verwirklichen. Fast auf den Tag zehn Jahre später mußte dieser Versuch als gescheitert angesehen werden. Am 05.11.1971 explodierte kurz nach dem Start von Kourou die einzige Europa II Rakete. Nach einer Reihe von enttäuschenden Fehlschlägen bereits bei der Entwicklung des Vorgängers Europa I war die Organisation ELDO ohnehin bereits seit längerem praktisch gelähmt. Als großer Fehler hatte sich erwiesen, die Verantwortung für die Entwicklung der einzelnen Stufen praktisch komplett in die Hände der jeweiligen Nationen zu legen. Der ELDO fehlte es an Kraft, das Gesamtprojekt zu koordinieren, was auch daraus resultierte, daß die Organisation von Politikern dominiert wurde. Ein ständiger Streitpunkt waren zudem die Finanzen. Großbritannien, das schließlich 38,79% der Mittel aufbringen mußte, wollte sich schon bald aus dem Projekt zurückziehen. Die Idee, über den Umweg eines europäischen Raumfahrtprogramms die Entwicklungskosten der Blue Streak refinanziert zu bekommen und, mindestens ebenso wichtig, das know-​how in der nationalen Industrie zu erhalten, rechtfertigte schon nach einiger Zeit nicht mehr den Aufwand. Und was einige Experten bereits befürchtet hatten, bestätigte sich nun. Die ELDO investierte große Summen in die Entwicklung einer Trägerrakete, deren Technik zum Zeitpunkt ihrer Serienreife bereits obsolet sein würde. Als die erste Blue Streak am 05.06.1964 von Woomera startete, lagen die britischen Arbeiten zur Adaption der Rakete an ihre neue zivile Rolle bereits zwei Jahre hinter dem Plan. Frankreichs Entwicklung einer geeigneten Zweitstufe sah sich noch größeren Verzögerungen gegenüber. Die Véronique hatte sich als nicht geeignet erwiesen. Die neue Stufe hieß Coralie und baute auf den Erfahrungen mit der Véronique Astris Stufeauf. Die Synchronisation ihrer vier Triebwerke war aber eine neue Herausforderung. Sehr anspruchsvoll war auch die komplette Neuentwicklung der dritten Raketenstufe in der Bundesrepublik Deutschland. Hatten doch bisher die allierten Beschränkungen die Entwicklung von Großraketen im Nachkriegsdeutschland verboten. Außerdem mußten hier im Eiltempo erst noch die organisatorischen Strukturen geschaffen werden, über die Frankreich und Großbritannien bereits verfügten. Seitens der Industrie übernahm in Deutschland die ASAT (Arbeitsgemeinschaft Satellitenträgersystem), ein Zusammenschluß von ERNO Raumfahrttechnik und Bölkow Entwicklungen KG, die Entwicklung. Verzögerungen waren auch hier unvermeidlich. Während in Großbritannien und Frankreich bereits Prüfstandläufe der Stufen stattfanden, baute man in Deutschland noch an Holzattrappen, wie die Presse damals berichtete. Selbst das erste Exemplar des italienischen Testsatelliten STV (Satellite Test Vehicle) wurde nicht vor Ende 1965 erwartet. Seine umfangreiche Sensorik und Telemetrie machte aus ihm ein durchaus komplexes Gerät.
Während die Erprobung der einzelnen Baugruppen (Stufen) der ELDO Rakete auf den Testständen und bei Erprobungsflügen überwiegend erfolgreich verlief, entwickelte sich die Flugqualifikation des Gesamtgerätes zu einer scheinbar endlosen Reihe von Fehlschlägen. Drei konstruktiv vollkommen unterschiedliche Stufen mit drei verschiedenen Treibstoffkombinationen trieben zudem den Aufwand bei der Startvorbereitung enorm in die Höhe. Jetzt erwies sich klar die organisatorische Struktur des ELDO Programms als vollkommen ungeeignet, nationenübergreifend korrigierende Maßnahmen durchzusetzen. Und die chronische Unterfinanzierung trug zum Mißerfolg des Programms bei. Die beteiligten Nationen mußten das Scheitern des Projekts erklären, die ELDO wurde liquidiert.
Zehn Jahre nach den ersten Schritten hin zur Entwicklung einer europäischen Trägerrakete war es damit zwar bei keinem der Starts gelungen, tatsächlich einen Satelliten zu starten. Doch hatte das ELDO Projekt zum Aufbau leistungsfähiger industrieller Strukturen vor allem in Frankreich und Deutschland geführt, während sich Großbritannien zunehmend aus der Entwicklung zurückgezogen hatte. Als daher Frankreich zunächst in einem nationalen Alleingang versuchte, aufbauend auf den Studien für eine wesentlich modernere Europa III Rakete, doch noch einen einsatzfähigen Satellitenträger zu entwickeln (L3 S), fanden sich rasch Partner, die sich an diesem Projekt beteiligen wollten. Organisatorisch weitaus straffer geführt, wenn auch weit von schlanken Strukturen entfernt, konnte das Ariane Projekt in sechs Jahren zum Erfolg geführt werden.