Wenn heute die schwimmende Startplattform „Odyssey“ ihren Heimathafen Long Beach verläßt, um Kurs auf eine weitgehend menschenleere Region des pazifischen Ozeans in Höhe des Äquators zu nehmen, praktiziert ihr Betreiber Sea Launch ein Konzept mit langer Vorgeschichte.
Gerade die kommerziell hart umkämpften Starts geostationärer Nutzlasten profitieren aus bahnmechanischen Gründen besonders von einem Start möglichst in der Nähe des Äquators. Die Rotationsgeschwindigkeit beschleunigt hier die Nutzlast zusätzlich und erlaubt so den Transport schwererer Nutzlasten auf die geostationäre Transferbahn oder direkt auf eine Synchronbahn in 36.000 km Höhe. Dieses Prinzip war bereits bekannt, bevor auch nur die ersten geostationären Satelliten gestartet waren. Allerdings haben nur die wenigsten Raumfahrtnationen Zugang zu einem geeigneten Gelände. Zudem spielen auch noch andere Erwägungen eine Rolle bei der Auswahl des Startplatzes. Klimatische Bedingungen, politische Stabilität und Erreichbarkeit sind nur einige davon. Aktuell profitiert am meisten die europäische Ariane-Rakete von der Lage ihres Startgeländes. Das Centre Spatial Guyanais befindet sich nur rund 500 km nördlich des Äquators.
Ideen, von einem Atoll am Äquator zu starten, wurden in den vergangenen Jahrzehnten daher immer wieder diskutiert. Doch nicht zuletzt die mit einer so remoten Lage verbundenen logistischen Probleme sprachen stets gegen eine Umsetzung. Mit ähnlichen Ergebnissen hatten auch alle in den 1960er Jahren unternommenen Studien zu diesem Thema geendet. Zeitweise hatte die NASA sogar erwogen, die Saturn V von einer schwimmenden Plattform auf See zu starten!
Auch wenn diese bei oberflächlicher Betrachtung so bestechende Idee sich also nie wirklich durchgesetzt hat (auch Sea Launch kämpft mit den hohen Betriebskosten), lieferten die Versuche zur Umsetzung doch wertvolle Erkenntnisse. Leider letztlich vornehmlich zum militärischen Einsatz. Aber auch das ist ein interessantes Kapitel zur Geschichte der Raketenentwicklung und Raumfahrt.
Neben der US Army zeigte bei Kriegsende 1945 auch die US Navy ein besonderes Interesse an der deutschen Großrakete Aggregat-4 . Die ersten Eisenbahnladungen mit erbeuteten Raketen und Ausrüstung trafen im Juli und August 1945 in Las Cruces, New Mexico ein. Im Laufe der nächsten Wochen summierte sich das Material auf rund 300 Waggonladungen. Unterdessen waren in der Nachbarschaft, auf dem White Sands Proving Ground, massive Bauarbeiten im Gange. Es entstanden die ersten Startanlagen, Montagegebäude und Bunker zur Erprobung der neuen Raketentechnologie. Ab Ende 1945 trafen dann auch die im Rahmen der Operation „Paperclip“ in die USA verschifften deutschen Raketenexperten in Fort Bliss am Rande des White Sands Areals ein. Am 15.03.1946 unternahm die US Army die erste Testzündung einer A-4 und einen Monat später, am 16.04.1946, flog erstmals eine A-4 vom WSPG. War man anfangs überwiegend damit beschäftigt, die Technik der A-4 zu verstehen und auf amerikanische Verhältnisse abgestimmte Prozeduren zu erarbeiten, so begann man doch schon bald mit ersten Verbesserungen. Immer mehr Komponenten aus eigener Produktion ersetzten die nicht mehr verfügbaren Originalteile. Bei einem Flug am 23.01.1947 konnten erstmals die kompletten Telemetriedaten aller wichtigen Systeme einer A-4 empfangen werden. Deren technische Parameter waren zudem kontinuierlich verbessert worden. Auch wenn im Nachkriegsamerika das Raketenprogramm keine hohe Priorität hatte — die überlegene Bomberflotte und der Besitz der Atombombe machten die USA der vom Krieg noch immer geschwächten Sowjetunion militärisch weit überlegen — hegten doch verschiedene Gruppen reges Interesse an der Rakete. Unter den US Teilstreitkräften gab es einen Wettstreit darum, wer die Kontrolle über die neue Waffe der ballistischen Rakete bekommen würde. Die US Army sah, ähnlich wie das deutsche Heer zuvor, die Rakete als Ergänzung der weitreichenden Artillerie. Als im September 1947 die US Air Force als von der US Army unbhängige Teilstreitkraft etabliert wurde, versuchte sie, die ballistische Rakete als „fliegendes Gerät“ unter ihre Zuständigkeit zu bekommen. Und auch die US Navy zeigte Interesse. Zunächst setzte sie auf die Entwicklung eines Marschflugkörpers („Regulus“) mit Jet-Triebwerk zur Bewaffnung ihrer U-Boote. Doch auch Feststoff– und Flüssigkeitsraketen als Bewaffnungsvarianten von U-Booten und Großkampfschiffen wurden untersucht. Zudem entwickelten gerade auch Wissenschaftler der Marine großes Interesse am Einsatz der Rakete als Forschungsgerät. Erste Wolkenbedeckungsbilder aus großer Höhe ließen z.B. bereits die kommende Anwendung der Rakete für meteorologische Zwecke ahnen. Das Naval Research Laboratory (NRL) und das von der US Navy mitfinanzierte Applied Physics Laboratory (APL) der Johns Hopkins University (JHU) zählten zu den Pionieren der Forschung mit Höhenforschungsraketen.
Zu den eher unkonventionellen Ideen zählte der Einsatz weitreichender ballistischer Raketen von Bord amerikanischer Flugzeugträger. Im Sommer 1947 bereitete sich die US Navy darauf vor, dieses Konzept erstmals unter realistischen Bedingungen zu erproben. Ein Team der Navy war auf dem WSPG im Umgang mit dem Aggregat-4 trainiert worden. Die US Army stellte zudem mehrere der Raketen zur Verfügung. Am 02.09.1947 verließ die USS „Midway“ ihren Heimathafen Norfolk und nahm Kurs auf ein Seegebiet einige 100 km vor der Küste von Virginia. An Deck des Flugzeugträgers war ein einfaches transportables Startgerüst errichtet worden. Der größte Teil der sonstigen Bodenausrüstung unterschied sich aber nicht wesentlich von jener, die auch in der Wüste New Mexicos zum Einsatz kam. Die USS „Midway“ hatte zwei flugfähige Raketen an Bord sowie ein Trainingsmodell. Am 06.09.1947 liefen dann im Rahmen eines umfassenderen Manövers die Vorbereitungen zum Start einer der beiden Raketen. Kamerateams waren an Bord positioniert, um das historische Ereignis zu dokumentieren. Ranghohe Militärs und Experten des Raketenprogramms, unter ihnen Wernher von Braun, wohnten dem Start bei. Bei ruhiger See hob die Rakete schließlich im Rahmen der Operation „Sandy“ vom achtern Flugdeck des damals größten Flugzeugträgers der US Navy ab. Die USS „Midway“ war mit Bedacht für dieses Unternehmen gewählt worden. Einerseits versprach ein derart großes Schiff eine große Stabilität auf hoher See (allerdings wurde gerade die USS „Midway“ wegen ihrer Kopflastigkeit diesen Erwartungen nicht in vollem Maße gerecht). Andererseits war die USS „Midway“ im Gegensatz zu den kleineren im Zweiten Weltkrieg gebauten Flugzeugträgern mit einem Deck mit einer 76 mm Panzerung ausgestattet. Die hölzernen Flugdecks der kleineren Träger waren immer wieder von japanischen Kamikaze durchschlagen worden. Mit teils verheerenden Konsequenzen. Das Risiko der Explosion einer vollgetankten A-4 an Deck eines solchen Trägers wollte niemand eingehen[1]. Dennoch wäre es am 06.09.1947 beim Start der Rakete beinahe zu einer Katastrophe gekommen. Unmittelbar nach dem Abheben neigte sich die Rakete etwa 20° zur Seite und flog in rund 30 m Entfernung an der Insel (Brücke) des Trägers vorbei. Der Steuerungsversager stürzte Sekunden später in Sichtweite der Trägerflotte ins Meer. Dessenungeachtet ging das Manöver weiter. Das Flugdeck wurde rasch geräumt, um unmittelbar im Anschluß an den Start der A-4 einige der an Bord stationierten Flugzeuge in die Luft zu bringen. Ziel war es offenbar, die Integration der A-4 in die Operationen an Bord eines Flugzeugträgers während Kampfhandlungen zu simulieren. Insofern war Operation „Sandy“ ein Erfolg.
Der Start schwerer ballistischer Raketen von Überwasserschiffen hatte trotz des (Teil-)erfolgs von Operation „Sandy“ keine Zukunft. Im Rahmen der Erprobung der „Polaris“ SLBM zur Bewaffnung der Atom U-Boot Flotte wurden 1960 zu Testzwecken einige der Raketen von der USS „Observation Island“ gestartet. Bereits am 12.05.1950 war eine „Viking“ Rakete, Nachfolger der A-4 in US Navy Diensten, von Deck der USS „Norton Sound“ gestartet worden. Operation „Reach“ verlief sehr erfolgreich und die „Viking“ stellte sogar einen neuen Höhenrekord für eine einstufige Rakete auf. Von der im Südatlantik vor den Falkland Inseln kreuzenden USS „Norton Sound“ starteten im August und September 1958 zudem drei Raketen zu einem äußerst umstrittenen und daher zunächst geheimgehaltenen Experiment. Sie transportierten im Rahmen des Projekts „Argus“ jeweils einen kleinen nuklearen Sprengkopf des Typs W-25 von etwa 1,7 kT Sprengkraft auf 200, 240 bzw. 540 km Höhe. Das Experiment diente nicht der Erprobung ballistischer Raketen. Vielmehr wurden Theorien zur Entstehung von Strahlungsgürteln untersucht, von deren gezielter Erzeugung sich das Militär einen Vorteil versprach.
Seither sind vermutlich hunderte kleinerer Raketen im Dienste der Wissenschaft von Schiffen gestartet worden. So setzte z.B. die Sowjetunion regelmäßig MR-100 Raketen im Rahmen von wissenschaftlichen Expeditionen in polare oder äquatoriale Gewässer ein. Militärisch machten moderne Marschflugkörper das Rennen um die Bewaffnung der Marine. Und in der Raumfahrt? Sea Launch ist das einzige Unternehmen, das sich bisher an die praktische Realisierung der Idee von der schwimmenden Startplattform machte. Die ehemalige Ölbohrplattform „Odyssey“, ein sogenannter „Halbtaucher“, kann mit eigener Kraft in das Seegebiet von Kiritimati direkt am Äquator fahren und dort dank moderner Hilfsmittel wie GPS präzise auf Position gehalten werden. Bisher mußte erst einmal eine Startkampagne wegen zu unruhiger See abgebrochen werden. Noch immer sind aber die Vorteile des Konzepts umstritten, weswegen mit Nachahmern wohl nicht zu rechnen ist.
Operation „Sandy“ |