Der Start einer Proton-K 8K82 K Rakete vom Kosmodrom Baikonur markierte am 19.02.1986 den Beginn einer neuen Phase des sowjetischen bemannten Raumfahrtprogramms. Rückblickend war der Start des Basismoduls der Raumstation „Mir“ der Auftakt zu einer Phase, in der die Sowjetunion den ständigen bemannten Betrieb einer solchen Station perfektionierte. Gleichzeitig ließ sich am Zustand des Orbitalkomplexes nach dem Ende der Sowjetunion aber auch der beklagenswerte Zustand des nunmehr russischen Raumfahrtprogramms ablesen. In einer bemerkenswerten Wendung des Schicksals erlebte die Mir ihre Wiederbelebung, als die NASA die Chance ergriff, ihre Astronauten auf der Station für Langzeitaufenthalte an Bord der geplanten Internationalen Raumstation zu trainieren. Ein Projekt, in dem viele Technologien, Lösungen und Erfahrungen aus dem Mir-Programm fortbestanden. Gewissermaßen markierte die Mir den Übergang vom kalten Krieg mit seinen nationalen Raumfahrtprogrammen zu einer wachsenden Kooperation. Treffender hätte insofern der Name der Raumstation nicht gewählt werden können. Мир steht im Russischen nämlich nicht nur für Welt, sondern auch für Frieden.
Seit Anfang der 1970er Jahre hatte die Sowjetunion vielfältige Erfahrungen mit dem Betrieb bemannter Raumstationen sammeln können. Während Sergej P. Koroljow, der berühmte Kopf des sowjetischen bemannten Raumfahrtprogramms, von gewaltigen Raumstationen im Erdorbit, interplanetaren Raumschiffen und Forschungsstationen auf dem Mars träumte, versuchte der Chefkonstrukteur des aufstrebenden OKB-52 Konstruktionsbüros, Wladimir N. Tschelomej, dem Militär seinen Entwurf für eine kleine bemannte Aufklärungsstation anzudienen. Er konnte dabei auf die vorhersehbare Reaktion der sowjetischen Politiker und Militärs vertrauen, nachdem die amerikanischen Pläne für ein Manned Orbiting Laboratory bekannt geworden waren. Dank der Protektion durch den sowjetischen Staatschef Nikita S. Chruschtschow konnte sich Tschelomej den Auftrag zur Entwicklung des sowjetischen Äquivalents des MOL sichern. Das Projekt erhielt den Namen OPS (russ. Орбитальная Пилотируемая Cтанция - ОПС) für bemannte Orbitalstation. Doch das OKB-52 hatte sich mit dem Projekt übernommen. Nicht nur, daß man mit der Entwicklung einer Raumstation Neuland betrat. Auch eine neue Rakete und ein Zubringerraumschiff mußten zur Serienreife gebracht werden. Im Sommer 1969 war absehbar, daß bis zum Erstflug des TKS-Raumschiffs (russ. Транспортный Kорабль Cнабжения, svw. Transportschiff für Versorgungszwecke) noch Jahre vergehen würden. Gleichzeitig hatten die USA bekanntgegeben, daß das MOL Programm abgebrochen werden sollte. Angesichts des hoffnungslosen Rückstands, den das eigene bemannte Mondlandeprogramm im Vergleich zum amerikanischen inzwischen hatte, versuchte man in der Sowjetunion inzwischen auch eine Neuorientierung. Zwar liefen die bisherigen Programme zunächst noch weiter. Doch perspektivisch erschien der Betrieb einer bemannten Raumstation im Erdorbit ein lohnenswertes Ziel. Sie konnte als Plattform für die Erderkundung oder Aufklärung genutzt werden, bot Raum für neuartige Forschungen unter Mikrogravitationsbedingungen und erlaubte es grundsätzlich, die Dauer der immer noch prestigeträchtigen bemannten Raumflüge auszudehnen. Das nährte immerhin die Hoffnungen einiger Enthusiasten innerhalb des Systems, doch noch einst mit einem im Orbit montierten großen Raumschiff zum Mond und Mars aufbrechen zu können. Zunächst aber mußte man einen raschen Erfolg verbuchen können. Denn die NASA stellte bereits Studien für die Zeit nach den ersten bemannten Mondlandungen an. Und darin fanden sich auch Vorschläge für eine Raumstation von beeindruckender Größe. Im Politbüro der Kommunistischen Partei wurde daher entschieden, die Entwicklung einer eigenen Raumstation zu forcieren. Allerdings entzog man Tschelomej die Zuständigkeit für die nunmehr zivile Entwicklung und legte das Programm in die Hände des ZKBEM unter Wassili P. Mischin. Tschelomej, der seit der Entmachtung Chruschtschows viel an Einfluß verloren hatte, mußte die Konstruktionsunterlagen seiner OPS Station zusammen mit den bereits gefertigten Raumstationskorpussen und vielen Baugruppen an das ZKBEM übergeben. Dort überarbeitete man das Design, um die Station statt mit dem TKS mit dem eigenen Sojus-Raumschiff anfliegen zu können. In die Entwicklung flossen Erfahrungen aus dem Mondprogramm ein. Die Station erhielt nun den Projektnamen DOS (russ. ДОС - Долговременная Oрбитальная Cтанция) für Langzeit-Orbital-Station. Im Februar 1970 erhielt das Projekt die Freigabe und im April 1971 startete die erste DOS Station unter dem Namen Saljut 1 ins All. Diesmal war man den USA mit dem Skylab zuvorgekommen. Auch Tschelomej kam mit seinem OPS Design noch zum Zuge, mußte allerdings das Zugeständnis machen, ebenfalls auf das Sojus-Raumschiff umzustellen. Anfangs war das sowjetische Raumstationsprogramm von vielfältigen Rückschlägen geprägt. Mißglückte Kopplungsversuche, erkrankte Besatzungsmitglieder, der Tod der Sojus 11 Mannschaft, Fehlstarts und Systemausfälle prägten die ersten Jahre. Doch einzelne erfolgreiche Missionen zeigten auch immer wieder das Potential der Stationen. Zudem hatten sich die USA nach nur drei Skylab-Missionen in den Jahren 1973/74 praktisch aus der bemannten Raumfahrt zurückgezogen (mit Ausnahme des ASTP im Jahr 1975). Spätestens mit den Stationen Saljut 6 (1977 – 1981) und Saljut 7 (1982 – 1986) war der Übergang zum Routinebetrieb vollzogen. Unbemannte Frachtraumschiffe, Weltraumausstiege, Langzeit-Stammbesatzungen und Kurzzeit-Gastmannschaften prägten jetzt das Bild. Mit der Einführung eines zweiten axialen Kopplungsstutzens konnten nun gleichzeitig zwei Sojus-Raumschiffe oder auch ein Progress-Frachtraumschiff angekoppelt sein. Das ermöglichte „fliegende“ Besatzungswechsel ebenso wie Nachschubmissionen während eines laufenden Raumflugs.
Bei NPO Energija, wie das ZKBEM seit 1974 hieß, träumte der neue Generaldirektor Valentin P. Gluschko unterdessen von einer neuen Familie von Schwerlastraketen. Diese sollte auch genutzt werden, um die Elemente einer weitaus größeren modularen Raumstation ins All zu transportieren. Nach Gluschkos Vorstellung sollte das erste Modul seiner POS (russ. ПOC - Постоянная Орбитальная Станция) getauften Raumstation 1979 starten, 1981 war die Fertigstellung dieser wörtlich „permanten Orbitalstation“ geplant. Doch Gluschko erhielt niemals die Genehmigung für mehr als Studien zu seiner Schwerlastraketenfamilie. Lediglich ein Modell sollte entwickelt werden, das primär die sowjetische Raumfähre als Antwort auf das US Space Shuttle ins All transportieren würde. Da als Trägerrakete somit weiterhin nur die Proton-Rakete zur Verfügung stand, die maximal 20 Tonnen auf einer erdnahe Bahn befördern konnte, mußte man sich an dieser orientieren.
Es entstand die Idee, mehrere Module der Saljut-Klasse miteinander zu koppeln. Dazu sollte die neue Raumstation zwei radiale Ports (analog der gerade im Bau befindlichen DOS 5 Station) und zwei axiale Ports erhalten. Ein Konzept, daß im zuständigen Ministerium auf Skepsis stieß. Der Erfolg von Saljut 6 bestätigte jedoch schon bald die Vorteile von zwei (axialen) Dockingports. Davon beflügelt, ging man bei NPO Energija nun einen Schritt weiter. Die nächste Station sollte nicht nur zwei axiale, sondern jetzt sogar vier radiale Ports erhalten. Damit betrat man technologisches Neuland. Niemals zuvor war der Versuch unternommen worden, eine derartig große Struktur im Weltraum aufzubauen. Dennoch erteilte die Regierung im Februar 1979 den Entwicklungsauftrag für eine Raumstation der nächsten Generation. Auch wenn niemand das tatsächliche Verhalten einer solchen Konstruktion angesichts der wirkenden Kräfte in der Umlaufbahn exakt vorausberechnen konnte, lieferten die Flüg von Saljut 6 und Saljut 7 im Verbund mit den großen (auf dem TKS Entwurf basierenden) Modulsatelliten Kosmos 1267 (1981) bzw. Kosmos 1443 (1983) und Kosmos 1686 (ab 1985) doch wertvolle Anhaltspunkte. Daraufhin wurde beschlossen, die Station DOS 7, die als Reserveexemplar für Saljut 7 (DOS 6) gebaut worden war, umzurüsten. Offenbar, weil NPO Energija mit anderen Projekten bereits ausgelastet war, wurde im Sommer 1979 die weitere Ausarbeitung des Projekts in die Hände des KB Saljut gelegt. Diese weitgehend eigenständige Filiale des ZKBM war schon zuvor umfangreich in die OPS und DOS Raumstationsprogramme involviert gewesen. Nun konnte man seine Erfahrungen aus beiden Entwicklungslinien einbringen. Ende 1980 sollten die Designarbeiten an der neuen Raumstation eigentlich abgeschlossen sein. Doch dieser Termin erwies sich als nicht zu halten. Anfang 1981 wurde zudem immer deutlicher, daß die Station immer schwerer wurde. Zu schwer für die Proton-Rakete. Im Sommer 1981 wurde daher entschieden, Teile der Ausrüstung in die Raumstationsmodule vom Typ 37 K auszulagern. Selbst ein Satz der Momentenkreisel zur Orientierung der Station wanderte ins 37KD Modul (das spätere Quant 2). Erst zum Jahreswechsel 1983/84 waren die Blaupausen der neuen Station fertiggestellt. Inzwischen absorbierte das sowjetische Raumfährenprogramm aber nahezu alle Ressourcen. In dieser Situation erging der Befehl, den Start der neuen Raumstation zu Ehren des XXVII. Parteitages der KPdSU im Februar 1986 zu unternehmen. Das sicherte dem Projekt zwar einerseits nun wieder eine gewisse Dringlichkeit, verschärfte aber auch den Termindruck. Und die Probleme rissen nicht ab. Vor allem die Gewichtsprobleme bereiteten den Ingenieuren Kopfzerbrechen. So geriet die Verkabelung weitaus schwerer, als ursprünglich kalkuliert. Dann wurde absehbar, daß die Software für den neuen Bordcomputer Saljut-5 B nicht rechtzeitig fertiggestellt sein würde. Daher fiel die Entscheidung, die Station noch mit dem alten Argon-12 S System zu starten und die Bordcomputer später im Flug zu tauschen. Ein riskantes Unterfangen. Doch die Kapazität des alten Computers reichte lediglich aus, um die Grundfunktionen des Basisblocks der Station zu kontrollieren. Weitere grundlegenden Probleme bestanden mit der Solarzellenanlage. Nach den Erfahrungen mit den Saljut-Stationen sollte der Basisblock der neuen Station gleich mit drei steuerbaren Solarzellenflächen ausgerüstet werden. Doch das Gewicht der Konstruktion war zu hoch. Daher wurde entschieden, die dritte Solarzellenfläche erst später nachzuliefern und bei einem Außenbordmanöver zu montieren. Aus dieser Konzeptänderung resultierten allerdings erhebliche konstruktive Anpassungen. Dann zeigten Solarzellenproben, die im Oktober 1984 von Saljut 7 zur Erde zurückgebracht worden waren, eine erschreckend starke Alterung. Schließlich kam ein vollkommen neues Modell von GaAs-Solarzellen zu Einsatz.
Ungeachtet aller Probleme galt es dennoch, die neue Raumstation pünktlich zum nächsten Parteitag der Kommunistischen Partei zu starten. Der Zeitplan konnte schließlich nur gehalten werden, indem man beschloß, die endgültige Ausrüstung und Flugqualifizierung in Baikonur vorzunehmen. Am 06.05.1985 traf der Basisblock der Raumstation (Erzeugnis 17KS, S/N 12701 ) in Baikonur ein. Doch dort war man noch nicht auf dessen Ankunft vorbereitet. Die Umrüstung der Montagehalle auf den erforderlichen Reinstraumstandard war noch nicht abgeschlossen. Schließlich konnten die Arbeiten aber bis zum Ende des Jahres 1985 zu Ende gebracht werden. Extra für die zu schwer geratene Station, die nun den Namen „Mir“ trug, war eine Proton-K 8K82 K Rakete mit handverlesenen schubstärkeren Triebwerken ausgerüstet worden. Ein höherer Brennkammerdruck steigerte den Schub der Erststufe um 7%, was einer zusätzlichen Nutzlast von 1.745 kg entsprach. Dennoch war schon längst entschieden worden, auch die Mir wieder auf einer Bahn mit der schon traditionellen Bahnneigung von 51,6° fliegen zu lassen. Die ursprünglich vorgesehene, für die Erdbeobachtung besser geeignete, 65° Bahn hätte die Nutzlastkapazität der Proton jedenfalls überschritten.
Am 16.02.1986 liefen die Vorbereitungen für den für diesen Tag vorgesehenen Start, als Sekunden vor dem Abheben plötzlich der Telemetrieempfang von der Station abbrach. Im letzten Augenblick wurde der Countdown abgebrochen. Das Problem selbst war nicht so schwer zu lokalisieren und zu lösen. Kritischer waren die extrem niedrigen Temperaturen und der böeige Wind in Baikonur. Daher mußte eine Klimatisierung für die in der Nutzlastverkleidung eingeschlossene Raumstation improvisiert werden. Anderenfalls hätten Schäden u.a. am empfindlichen Lebenserhaltungssystem der Mir gedroht. Am 20.02.1986 gelang der Start dann im zweiten Anlauf ohne weitere Probleme. Rechtzeitig zum am 25.02.1986 beginnnenden XXVII. Parteitag der KPdSU konnte der Vollzug der gestellten Aufgabe gemeldet werden. Ironischerweise war es der erste Parteitag unter Führung von Michail Gorbatschow, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, u.a. mit solchen Propagandamaßnahmen aus Anlaß diverser Jubiläen aufzuräumen. Und der Start der Mir war nicht nur unter extremem Zeitdruck realisiert worden. Er war zu diesem Zeitpunkt auch noch weitgehend unsinnig. Mit Saljut 7 hatte man noch eine einsatzfähige Station im All, die gerade erst wieder modernisiert und für neue Experimente ausgerüstet worden war. Die Ausrüstung der Mir Basisblocks war hingegen aufgrund der Gewichtsprobleme soweit minimiert worden, daß er praktisch über keinerlei Forschungskapazitäten verfügte. Und die ersten Erweiterungsmodule waren noch Monate, wenn nicht Jahre, von ihrer Fertigstellung entfernt. Schließlich verfiel man auf den abenteuerlichen Plan, mit Sojus T-15 sowohl die Mir als auch Saljut 7 anzufliegen. Leonid Kisim und Wladimir Solowjow sollten zunächst die Mir ansteuern und in Betrieb nehmen. Das wurde dadurch erschwert, daß ihr Raumschiff noch mit dem alten „Igla“ Rendezvoussystem ausgestattet war, während die Mir bereits das neuere „Kurs“ System nutzte. Demnach war hier das Docking nur per Handsteuerung möglich. Von der Mir würden Kisim und Solowjow dann zu Saljut 7 hinüberfliegen und dort möglichst viele transportable Experimente demontieren, um sie zur Mir herüberzuschaffen. Das riskante Unternehmen wurde der Welt im März 1986 als neues Glanzstück der sowjetischen Raumfahrt demonstriert. Tatsächlich konnte der wissenschaftliche Betrieb der Mir aber erst im Februar 1987, ein ganzes Jahr nach ihrem Start, aufgenommen werden.
Modul | Start | Kopplung |
Mir Basis | 20.02.1986 | - |
Quant | 31.03.1987 | 05.04.1987 |
Quant 2 | 26.11.1989 | 06.12.1989 |
Kristall | 31.05.1990 | 10.06.1990 |
Spektr | 20.05.1995 | 01.06.1995 |
Docking Module | 12.11.1995 | 15.11.1995 |
Priroda | 23.04.1996 | 26.04.1996 |
Trotz dieses holprigen Starts entwickelte sich die neue Raumstation kontinuierlich zu einer weltweit einmaligen Forschungsplattform im All. Mit dem Quant Modul (Erzeugnis 77KE) traf im April 1987 auch endlich wissenschaftliches Equipment in nennenswertem Umfang ein. Über die Jahre folgten weitere Module unterschiedlichster Aufgabenstellungen (u.a. Astrophysik, Geophysik, Biotechnologie, Ingenieurwissenschaften, und Technologie, Erderkundung, Materialwissenschaft, Medizin…). Dabei fiel dieses Raumfahrt-Großprojekt gerade in eine Phase gewaltiger Umwälzungen politischer und ökonomischer Natur. Der neue Generalsekretär des ZK der KPdSU, Michail Gorbatschow, hatte 1986 unter den Stichworten Glasnost und Perestroika tiefgreifende Reformen eingeleitet. Diese gingen auch am sowjetischen Raumfahrtprogramm nicht spurlos vorbei. Erstes Opfer einer Neubewertung aller Großprojekte unter ökonomischen Aspekten war das Energija-Buran Programm. Dabei waren Flüge der Raumfähre „Buran“ zur Mir fester Bestandteil des Raumstationsprogramms gewesen. So war auch der Transport neuer Raumstationsmodule mit der Raumfähre vorgesehen gewesen. Sie zählten zu den wenigen Nutzlasten, die tatsächlich als Rechtfertigung zur Entwicklung der Raumfähre herhalten konnten. Als nun deren Start nur noch mit der Proton möglich war, machte das teils umfangreiche konstruktive Änderungen erforderlich. Schließlich erfaßte der wirtschaftliche Niedergang der Sowjetunion das gesamte Projekt, das dennoch praktisch in allen Teilrepubliken als Meisterleistung einer Nation empfunden wurde. Das war insofern auch nicht verwunderlich, weil für „Energija“, „Buran“ und „Mir“ die modernsten Technologien aufgeboten worden waren, über die die sozialistischen Staaten in den 1980er Jahren verfügten. Praktisch in allen Regionen der Sowjetunion waren Forschungseinrichtungen und Betriebe damit beschäftigt, diese Projekte umzusetzen. Als die Sowjetunion im Jahr 1991 zerfiel, wurde aus der einst gesamt-sowjetischen Raumstation nun eine national russische Angelegenheit. Doch Rußland fehlten die finanziellen Mittel, das Programm fortzuführen. Zudem lagen zahlreiche Produktionsstätten der Raumfahrtindustrie nun plötzlich im Ausland, ebenso das Kosmodrom Baikonur als Zugang zu ihr. Nur notdürftig gelang es, die Station in betriebsbereitem Zustand zu erhalten. Zeitweise wurde sogar ihre Aufgabe erörtert. In dieser Situation kam es zu einer politischen Annäherung an die USA, die auch engere Kontakte zwischen den Raumfahrtorganisationen beider Länder ermöglichten. Die NASA steckte damals mit dem Projekt der Raumstation „Freedom“ in der Krise. Wiederholt war deren Layout verändert worden. Doch die Idee, die Station weitgehend aus kleinen Baugruppen im All von Astronauten montieren zu lassen, hatte sich mehr und mehr als undurchführbar erwiesen. Zudem hielt die Finanzierung des Großprojekts nicht mit den Kostensteigerungen schritt. Die Rettung kam, als im November 1993 US Präsident Bill Clinton einen Neuanfang des Projekts unter Beteiligung Rußlands veranlaßte. Konzeptionell konnte man nun auf die russischen Pläne für die Mir-2 Station zurückgreifen, die aus Geldmangel jedoch ebensowenig eine Chance auf Umsetzung gehabt hätten, wie die amerikanischen Konzepte. Um die amerikanischen Astronauten mit dem Betrieb einer Raumstation vertraut zu machen, wurde eine Vereinbarung getroffen, die Gastaufenthalte von Astronauten an Bord der Mir vorsah. Dabei konnte man auf ein Papier zurückgreifen, das die Präsidenten George Bush und Boris Jelzin bereits am 17.06.1992 unterzeichnet hatten, und das eine amerikanisch-russische Mission des Space Shuttle zur Mir vorsah. Schließlich starteten sieben Astronauten zur Mir, einer davon sogar an Bord eines Sojus-Raumschiffs. Die umfangreiche Finanzierung dieser Unternehmen durch die amerikanische Seite stellte letztlich den Weiterbetrieb der Mir sicher. Vor allem die letzten beiden Raumstationsmodule Spektr (Erzeugnis 77KSO) und Priroda (Erzeugnis 77KSI) wären ohne diesen Geldfluß wohl nie fertiggestellt worden. Die praktische Zusammenarbeit ließ trotz zahlreicher Rückschläge, Irritationen und auch kultureller Mißverständnisse doch allmählich die Basis für jene Zusammenarbeit wachsen, wie sie heute erfolgreich auf der ISS, dem würdigen Nachfolger der Mir, betrieben wird.
Auch wenn sich zuletzt die Systemzusammenbrüche an Bord der Station in einem Maße häuften, daß ein Weiterbetrieb kaum noch zu rechtfertigen war, und dazu kritische Zwischenfälle wie Kollisionen und Brände kamen, wollte niemand so recht das Ende der Mir beschließen. Für viele war sie so etwas wie das letzte Leuchtfeuer einstiger sowjetischer Größe. Andere sahen in ihrem Weiterbetrieb ein Symbol für den Fortbestand einer russischen Raumfahrt in der Nachfolge der bedeutenden sowjetischen Programme. Die Kooperation mit den USA als Partner beim Aufbau der ISS bedeutete für sie die Aufgabe der Führungsrolle auf dem Gebiet der bemannten Raumfahrt. Deutlich wurde das, als die russische Seite vehement den Namen „Alpha“ für die neue Station ablehnte. Die erste „echte“ Raumstation war und blieb für sie die Mir. Doch 1998/99 war das Ende kaum noch aufzuhalten. Im Juni 1998 hatte der letzte Amerikaner die Mir verlassen. Und auch die Fortführung der Kooperationen mit anderen Nationen (seit 1987 waren Raumfahrer aus Syrien, Bulgarien, Afghanistan, Frankreich, Japan, Großbritannien, Kasachstan, Österreich und Deutschland zu Gast gewesen) trug nur noch wenig zum Erhalt der Station bei. Der letzte ausländische Besucher aus der Slowakei flog bereits zu vergünstigten Sonderkonditionen. Nun klammerte man sich in Rußland an jeden sich bietenden Strohhalm, der den Erhalt der Raumstation sicherstellen konnte. Doch weder der britische Geschäftsmann Peter R. Llewellyn noch der US Sänger John Denver, der 1997 bei einem Flugzeugabsturz umkam, brachten tatsächlich die geforderten Summen auf. Ebensowenig wurde ein geplantes Filmprojekt an Bord der Mir verwirklicht. Dennoch entschied im Januar 1999 die russische Regierung, die Mir weitere drei Jahre fliegen zu lassen. Aber erst im Jahr 2000 zeichnete sich tatsächlich eine Finanzierung jenseits der geringen finanziellen Mittel ab, die die Regierung im Haushalt bereitgestellt hatte. Mit der in den Niederlanden ansässigen MirCorp trat ein Unternehmen auf, das offenbar ernsthaft daran interessiert war, zahlungskräftigen Millionären ihren Traum vom Flug ins All zu verwirklichen. Und das gewillt war, fair mit seinen russischen Partnern bei der Umsetzung zusammenzuarbeiten. Schließlich konnte mit dem Amerikaner Dennis Tito tatsächlich ein erster Vertrag unterzeichnet werden. Doch Ende 2000 wurden plötzlich alle Pläne zur Zukunft der Mir über den Haufen geworfen. Tito war mit seinem Training noch nicht weit genug fortgeschritten, um ins All fliegen zu können. Vor allem sprach er weder ausreichend Russisch noch verstanden seine beiden anderen Mannschaftskameraden genug Englisch. Tito sollte nun mit einer anderen Mannschaft zur ISS fliegen. Wenige Tage nach dieser Bekanntmachung sickerten auch Informationen durch, wonach sich der Zustand zahlreicher Systeme der Mir drastisch verschlechtert hatte. Der gezielte Wiedereintritt des Orbitalkomplexes mußte nun zügig angegangen werden. Während sich am Boden eine Sojus-Mannschaft für den Fall bereit hielt, daß die Station tatsächlich außer Kontrolle geriet, startete am 24.01.2001 das unbemannte Progress M1-5 Raumschiff, das mit besonders großem Treibstoffvorrat betankt war, um den Orbitalkomplex präzise auf dem vorgesehenen Korridor in die Atmosphäre eintauchen zu lassen. In den Fernsehstationen der Welt gaben sich Anfang 2001 die Experten die Klinke in die Hand, um über den bevorstehenden Wiedereintritt der Mir zu referieren. Es war bekanntgeworden, daß das Kontrollzentrum in den letzten Wochen mehrfach, wenn auch immer nur kurz, den Kontakt zur Mir verloren hatte. Würde der Wiedereintritt tatsächlich über dem Pazifik erfolgen? Oder drohten die Trümmer über einer Großstadt niederzuregnen? Immerhin wog der gesamte Komplex rund 130 Tonnen! Doch die russischen Experten begleiteten die letzte Phase im Leben der Mir mit der in langen Jahren erworbenen Routine. Zunächst dockte der letzte Progress-Transporter am 27.01.2001 ohne Schwierigkeiten am hinteren Port des Quant Moduls an. Über die nächsten Wochen wurde das natürliche Absinken der Bahn kontinuierlich beobachtet. Am 18.03.2001 waren die Informationen ausreichend präzise, um einen Wiedereintritt für den 23.03.2001 vorauszusagen. Kurz nach Mitternacht des Tages zündete das Triebwerk von Progress M1-5 erstmals und senkte die Bahn weiter ab. 90 min später folgte eine zweite Zündung. Und um 05:08 UTC wurde das finale Manöver eingeleitet. Haupt– und Steuertriebwerke brannten, bis der letzte Treibstoff verbraucht war. Gegen 05:53 UTC unterschritt die Mir die 100 km Höhenmarke. In etwa 80 km Höhe begann sie auseinanderzubrechen. Die Trümmer regneten entlang einer 200 km breiten und 3.000 km langen Ellipse über dem Pazifik herab. Das Ende einer beispiellosen 15-jährigen Mission, die einst von den Ingenieuren auf 5 bis 6 Jahre veranschlagt gewesen war.